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Bouldern im Tessin oder die schönsten Probleme der Welt

Bernard van Dierendonck, Dienstag, 09. April 2024

Für die zweite Jubiläumstour anlässlich «50 Jahre Bächli Bergsport» tauschen drei Bächli-Filialleiter die Probleme des Geschäftsalltags gegen Probleme am Fels. Einzige Vorgabe: Gebouldert wird im Kanton der Gastgeberfiliale Contone.

Der Boulderspezialist hatte recht. Tüppige 30 Grad und die grossen Bouldermatten auf unseren Rücken drücken beim Zustieg zum Bouldergebiet Cresciano den Schweiss aus allen Poren. Wir, das sind die Bächli Bergsport Filialleiter Stefan Vetter aus St. Gallen, Moreno Hobi aus Chur, Igi Bettoni aus Contone bei Bellinzona und ich (Bernard van Dierendonck) als Fotograf und Journalist.

Es war Aufgabe der drei Chefs, sich für ein Bouldergebiet im Tessin zu entscheiden. Sie hatten die Qual der Wahl: Der Kanton gilt in der Szene als eines der besten Bouldergebiete der Welt. Von überall her pilgert die Bouldergemeinde zu den Gneissblöcken im Val Bavona, im Verzascatal, in den Wald oberhalb von Cresciano oder an die vielfältigen Blöcke beim rustikalen Dörfchen Chironico.

Gut gerüstet mit Crashpads rücken Igi, Stefan und Moreno (v. l.) in Schildkrötenformation an.

Das strukturierte Gestein bietet geneigte Reibungsplatten, senkrechte Wände und kraftvolle Überhänge. Die Boulders liegen teils verstreut, teils dicht in den wilden Kastanienwäldern. Die Möglichkeiten sind grenzenlos. Immer wieder wird hier Bouldergeschichte geschrieben. So unlängst mit der knallharten Traverse «Alphane» in Chironico. Diese wurde vom Amerikaner Shawn Raboutou eröffnet und ist einer von einer Handvoll Boulders, welcher mit dem Schwierigkeitsgrad Fb 9a bewertet wurde, dem bisher höchsten Boulderschwierigkeitsgrad.

Höchstschwierigkeiten sind für unseren Ausflug nicht von Belang. Wir sind in den gemässigten Schwierigkeitsgraden unterwegs. Von den drei Filialleitern hat bisher vor allem der Routinier Stefan Vetter Bouldererfahrung. So boulderte er an den eiförmigen Granitblöcken im Buttermilk Country in Kaliforniens Sierra Nevada oder im Boulderparadies Fontainebleau bei Paris.

Viele Züge auf wenigen Metern Fels

Nach einer halben Stunde Aufstieg ist fertig geschwitzt. Wir erreichen «Filo a sbalzo», einen der insgesamt sechzehn Bouldersektoren von Cresciano. Diverse, bis zu vier Meter hohe Gneisklötze stehen im lichten Wald. Zu unserer Erleichterung ist es nicht mehr so drückend heiss, ja, es streicht sogar ein kühlendes Lüftchen um die Felsen. Zum Einklettern legen wir die Bouldermatten unter ein Problem im oberen vierten Grad. Puh – wie schwierig diese Kletterstelle ist! Zwar meistern alle den Boulder, aber so richtig locker gelingt er auch wieder nicht. Die Hitze alleine kann es nicht sein.

Der wahre Grund ist ein anderer: Die Bewertung von Boulderproblemen ist um einiges härter als diejenige von Kletterrouten. Es ist, wie wenn die vielen Züge einer Route auf wenige Meter Fels verdichtet sind. Im Vergleich kann man zur Routenbewertung rund drei Buchstabengrade hinzuzählen. Somit würde unser Boulder als Route mit 5c bewertet, das ist zum Start doch schon allerhand!
 

Wieso ist Fb 4c dermassen schwierig? Moreno im Problem «Vol au vent», Sektor «Filo a sbalzo», Cresciano.
 

Igi versucht sich als Nächstes an einem senkrechten breiten Block. Dank seiner eindrücklichen Spannweite erreicht er mit der linken Hand einen guten Seitengriff. Die Anspannung steht dem sonst immer gut gelaunten Lebemann ins Gesicht geschrieben. Vorsichtig hakt er die linke Ferse hinter einen Vorsprung und schnappt mit der anderen Hand hoch zur erlösenden Blockoberkante – da ist es wieder, Igis Lachen! Dann erzählt er, wie stark er sich gerade überwinden musste: «Früher war ich begeisterter Sportkletterer, doch dann hatte ich aufgrund eines Sicherungsfehlers einen schweren Kletterunfall. Das Erlebnis hielt mich bisher vom Klettern ab. In diesem Boulder bin ich über mich hinausgewachsen.»

Sehr gut gefällt es Moreno und auch Igi in der überhängenden, grossgriffigen Traverse «Il cherchio celtico». Der Boulder thront ziemlich direkt auf einem Absatz über dem Talboden der Riviera. Kollege Stefan kann mit dem Herumgeturne nicht so viel anfangen. Dafür knackt er diverse senkrechte, feingriffige Wandprobleme. In einer spiegelglatten Reibungsplatte spielt er seine jahrzehntelange Klettererfahrung aus – da bleibt dem Rest der Gruppe nur mehr das ehrfürchtige Staunen.

Mit planmässig schmerzenden Unterarmen setzen wir am späten Nachmittag den Bouldertrip in Richtung Chironico fort. Gemäss Boulderführer gibt es hier rund 2100 Probleme zu lösen. Ob unsere schon ziemlich dünne Haut an den Fingerkuppen auch nur mehr für ein paar wenige Probleme reichen wird?

Eine kulinarische Überraschung

Auf der Fahrt mit Stefans Campervan checken wir auf den Handys die Grotti in der Umgebung. Überraschend viele haben geschlossen. «Na klar – es ist Fronleichnam!», fällt uns ein. Eine Ausnahme ist das Bahnhofsbuffet «Alla Stazione» in Lavorgo. Wir reservieren und stellen uns auf eine einfache Verpflegung ein. Doch es kommt anders: Das «Alla Stazione» hat mit einem Bahnhofsbuffet gerade noch den Standort gemein. Eine kleine Recherche ergibt, dass das Restaurant unter Gourmets bestens bekannt ist. Im Gault Millau Rating erhält es gar 14 Punkte.

Beim Eintreten empfängt der Wirt Ermanno Crosetti persönlich. Besonders ist die Getränkeauswahl. Da gibt’s keine Weinkarte, stattdessen folgen wir dem Padrone in den Weinkeller. Fürs Abendessen empfiehlt er das, was er gerade eingekauft hat. Ob nun vegetarisch oder mit Fleisch, alles ist mit Liebe und Raffinesse zubereitet. Für die Nachspeise schwärmt Gault Millau vom Birnenkuchen mit gebackener Birnenhälfte. Selber testen wir das Mousse au Chocolat.
 

Weinkenner unter sich. Igi Bettoni und der Wirt Ermanno Crosetti im «Alla Stazione».
 

Am zweiten Bouldertag folgen wir ein paar knackigen Boulderrätseln, bis wir plötzlich auf einer Lichtung im Sektor Centrale stehen. Diese wird von einem gewaltigen Felsblock begrenzt. Mitten durch seine fast fünf Meter hohe Wand führt das Problem «Plat du jour». So eine elegante Linie – die müssen wir versuchen! Als Einstieg gilt es, gegen einen schmalen Seitengriff zu stützen, die Sohlen der Kletterfinken pressen derweil auf winzige Reibungstritte. So bekommen wir nach einigen Versuchen eine scharfe Leiste zu fassen.

Balance, Kraft und Psyche sind gefordert. Reihum arbeiten wir uns höher bis zur kleinen, stumpfen Verschneidung. Nur der letzte Kletterzug bis zum Ausstiegsgriff will nicht gelingen. Die Füsse rutschen von den Tritten, die Stürze werden häufiger. Auch Stefans ausgefeilte Klettertechnik hilft ihm nicht weiter.

Müde setzen wir uns auf die Bouldermatten, knabbern am Picknick und betrachten zufrieden unsere Fingerkuppen. Noch bluten sie nicht, aber das Ziel ist erreicht. Wir lassen die Stille im Kastanienwald auf uns wirken und träumen bereits von einem nächsten Mal. Mit etwas Training und zu einer kühleren Jahreszeit wird uns der «Plat du jour» hoffentlich zur Vorspeise gelingen und den Weg ebnen für viele weitere Probleme im Tessiner Boulderparadies.
 

Das nächste Mal vielleicht zur Vorspeise? Moreno vor dem letzten Zug von Plat du jour, Fb 5c, Sektor Centrale, Chironico.
 

Informationen zum Bouldern in Cresciano und Chironico

Bouldern im Tessin ist sehr populär. Dies führt zu einigen Spannungen mit der lokalen Bevölkerung. Damit uns dieses Boulderparadies erhalten bleibt, müssen wir unbedingt die saisonalen Zugangsbeschränkungen einhalten, die offiziellen Parkplätze benutzen, Fahrverbote einhalten oder noch besser mit dem Ö.V. anreisen und strickte auf das wilde Campieren verzichten.

Anreise

  • Cresciano: Cresciano erreicht man besonders gut mit dem ÖV. Bus ab Bellinzona bis «Cresciano Paese». Wer mit dem PW anreist, sollte unbedingt unten im Dorf parkieren. Es hat ein Fahrverbot hinauf ins Bouldergebiet (Bussen werden regelmässig verteilt)! Ab Parkplatz oder Bushaltestelle in 30 Minuten zu Fuss ins Bouldergebiet.
  • Chironico: Zug bis Lavorgo, von hier je nach Sektor mit dem Bus bis Chironico «Area Boulder», «Paese» oder «Grumo». Mit PW: Unbedingt die ausgeschilderten kostenpflichtige Parkplätze benutzen. Parkplatz reservieren und bezahlen via inlakech.ch/the-parking. Auf einigen Parkplätzen ist auch das Übernachten (im Camper) gegen Bezahlung erlaubt. 

Saison
Wer anspruchsvoll Bouldern möchte, bevorzugt die Monate von September bis April. Natürlich wird man auch ausserhalb der kühleren Jahreszeit boulderglücklich.

Topos
Die wunderbar gestalteten und aktuellen Boulderführer zu Cresciano und Chironico sind bei Bächli Bergsport erhältlich.

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