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Aufgedeckt - mit einem Geo-Guide durch die Glarner Alpen

Iris Kürschner, Mittwoch, 21. März 2018

Rätselhafte Naturphänomene überraschen in den Glarner Alpen. Hotspot für wegweisende Entdeckungen: der Geopark Sardona. Mit einem Geo-Guide auf 3-Tages-Tour durch einsame Hochtäler und über raue Grate.

«Kein Mensch würde es glauben, man hielte mich für einen Narren.» Was der Geologieprofessor Arnold Escher 1848 aufdeckte, wälzte alle bisherigen Vorstellungen um. Allerdings erst nach langem Widerstand. Nirgendwo auf der Welt zeigen sich die Mysterien der Gebirgsbildung so deutlich wie im Osten der Schweiz, zwischen Churer Vorderrheintal, Walensee und Linthal, im Grenzgebiet der drei Kantone St. Gallen, Graubünden und Glarus. Das Calfeisental ist eines der faszinierendsten Entrées in das Herzstück des Parks: das Sardonamassiv. Das Postauto hat eine Handvoll Wanderer am Staudamm des Gigerwaldsees entlassen, wo es zwischen den Felsen so eng ist, dass nur das Wasser Platz hat und für das Strässchen in den Talschluss Galerien geschlagen werden mussten. Auf dem Weg durch die Serie tropfender Tunnels klettert der Blick immer wieder staunend die Steilwände hinauf. Merkwürdige Linien zeichnen die lotrechten Felsfluchten. Aufgeschichtet wie Blätterteig. Als wäre dem Gebirgsrelief ein schmales Kuchenstück entnommen, um sein Innenleben studieren zu können.

«Lotrechte Felsfluchten, aufgeschichtet wie Blätterteig. Als wäre dem Berg ein Kuchenstück entnommen, um sein Innenleben studieren zu können.»

«Die Schichtungen, die in den Wänden als Linien oder als bankförmig hervorstehende Felsplatten erkennbar sind, kennzeichnen Sedimentgesteine. Überlagern sich mehrere Schichten, ergibt sich ein ungeheures Zeitarchiv», erklärt Thomas Buckingham der kleinen Wandergruppe, die sich mit ihm zu einer dreitägigen Exkursion aufmachen will. Der Geologe gehört zu einer Mannschaft von GeoGuides, die im Geopark Sardona Wanderungen mit Tiefblick anbieten. Anstatt trockener Materie und wissenschaftlichem Kauderwelsch aus Fachbüchern, die ein Laie kaum kapiert, gibt es Erdgeschichte zum Anfassen.

Am anderen Ende des Stausees liegt Sankt Martin. Die Walsersiedlung wirkt wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Wettergegerbte Holzhäuser, die Fenster geschmückt mit roten Geranien, auf einem kleinen Weiher schnattern Enten miteinander. Im Beinhaus an der geschichtsträchtigen Kapelle harren die Knochen der letzten Bewohner, die hier ums Überleben kämpften. Im Winter drang kein Sonnenstrahl hinunter, Lawinen bedrohten die Einwohner. Im Jahr 1652 übersiedelten die von einer einst 100 Personen umfassenden Walserkolonie noch verbliebenen drei Calfeisni ins ganzjährig bewohnte Dorf Vättis, gelegen an der Einmündung vom Calfeisen- ins Taminatal. Die Stimmen der verstorbenen Seelen höre man manchmal noch, verrät André Riehle aus eigener Erfahrung. Für den Wirt von St. Martin gibt es keinen magischeren Ort. Tatsächlich aber haben ihn die Steine hierher geführt. Im Flussbett liegen sie überall verstreut. Graue Brocken mit weissen Linien, die wie Kunstwerke wirken. Adermineralien, klärt Buckingham auf. Bruchstellen im Gestein füllten sich mit reinerem Material, deshalb die weisse Farbe.

EINE LINIE ZUM KOPFZERBRECHEN
Anstatt die Alpstrasse zu wählen, führt Buckingham auf einem verwunschenen Pfad am linken Ufer der Tamina entlang zur Alp Sardona. Im Talschluss Kuhgebimmel, Murmelipfeifen, Sommeridylle. Wer den Hals reckt, sieht, wie durch die oberste Partie der Felsenarena eine markante Linie zieht. Scharf und gerade, wie mit einem Lineal gezogen. Sie trennt älteres von jüngerem Gestein. Eigentlich müsste es aber doch umgekehrt sein? Ein Rätsel, das Geologen fast ein Jahrhundert Kopfzerbrechen verursachte. Wie kann älteres auf jüngerem Gestein liegen? Buckingham holt weit aus. Bis ins 19. Jahrhundert glaubten die Erdwissenschaftler, dass Gebirge aus aufgestiegenem Magma bestünden, welches durch Abkühlung ähnlich schrumpfte wie die Runzeln eines alternden Apfels. Erst mit den Erkenntnissen, die hier in den Glarner Alpen gemacht wurden, änderte sich das Weltbild. Der Geopark Sardona ist damit eine Art Urzelle für das moderne Bild der Alpenentstehung. Wie einen Krimi erzählt Buckingham den «Zusammenprall» der Kontinente, wie sich gewaltige, kilometerdicke Gesteinspakete überund untereinanderschoben, sich stapelten, quetschten, ineinanderbrachen. Der Laie spricht da gerne von «Alpenfaltung ». Doch korrekt ist das nicht. «Die Alpen sind ein Deckengebirge, kein Faltengebirge», betont Buckingham. Dort, wo die Kontinente auseinanderdrifteten, entstanden Ozeane. Das Gebiet des Geoparks zwischen Rhein, Walensee und Linth bildete einst den nördlichen Küstenbereich des Ur-Mittelmeeres Tethys, das vor etwa 200 bis 35 Millionen Jahren Ur-Afrika von Ur-Europa trennte. Buckingham deutet auf die weichen Geländeformen der Sardona Alp, Folgen untermeerischer Ton-, Sand- und Schlammlawinen. Abends in der Sardonahütte kramt Buckingham selbst gezeichnete Schaubilder aus seinem Rucksack. Trotz seines fünfjährigen Geologiestudiums habe er erst durch das Zeichnen die Vorgänge wirklich kapiert, gesteht Buckingham.


Kurze Rast an der Tschinglen-Wirtschaft.

LOSER SCHUTT UND KNALLIGE BERGBLUMEN
Die Sardonahütte thront auf einem kleinen Podest hoch über dem Calfeisental. Wasserfälle rauschen hinab, in der Morgensonne glänzen die Bachläufe wie silberne Adern. Hüttenwartin Helene Jäger rät von der geplanten Route über den Sardonagletscher ab. Zu steiles Blankeis, für das man Steigeisen bräuchte. Kein Problem, Buckingham kennt eine eisfreie Umgehung zum Segnasboden. Ein Bartgeier begleitet den Trupp. Scheinbar mühelos schwebt der riesige Raubvogel durch die Lüfte und nutzt die Thermik, während den Wanderern der Schweiss rinnt. Der Pfad zur Trinser Furgga gibt sich anspruchsvoll, eine dünne Pfadspur durch Felsbänder und losen Schutt. Dahinter öffnet sich ein unberührtes Tal, durch das der Blick zum Flimserstein gleitet. Buntes Gestein mit knalligen Blumenpolstern gestaltet die Landschaft fast unwirklich. Die Erschütterung der Fusstritte scheucht eine Schneehuhnfamilie auf. Aufgeregt wieseln die Küken in alle Richtungen, die Mutter hinterher. Jenseits der Fuorcla Raschaglius gestalten unzählige Bachmäander die Hochebene des Segnasbodens immer wieder neu. Aber das Hauptinteresse gilt der magischen Linie, der sogenannten Glarner Hauptüberschiebung, die der Tektonikarena Sardona 2008 die Aufnahme in die Unesco-Welterbeliste einbrachte. Scharf zieht sie sich durch die umliegenden Gipfel von Piz Dolf, Piz Sardona und Piz Segnas bis zu den Tschingelhörnern: Hier ist der Hotspot, aus dem sich der Geopark entwickelte. Über der Linie liegt als oberste Schicht 250 bis 300 Millionen Jahre altes Verrucano-Gestein, erklärt Buckingham, unter der Linie weitaus jüngeres, 35 bis 50 Millionen Jahre altes Flysch-Gestein. Die Linie selbst besteht aus Lochsitenkalk, der als Schmiermittel bei der Deckenüberschiebung diente. Ähnlich wie Buckingham muss es Hans Conrad Escher von der Linth gegangen sein. Der Universalgelehrte zeichnete 1812 das Phänomen an den Tschingelhörnern, um es besser zu verstehen. Doch erst sein Sohn Arnold Escher, Professor für Geologie in Zürich, kam zu dem Schluss einer «colossalen Überschiebung». Nach den damaligen Erkenntnissen hätte ihm kein Mensch geglaubt. So erfand dieser die Doppelfalten-Therorie, die einflussreiche Geologen wie Albert Heim übernahmen. Anno 1884 stellte der Franzose Marcel Bertrand die Interpretation wieder auf den Kopf und sprach von einer nur einzig möglichen Deckenüberschiebung. Nach langem Hin und Her setzte sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Deckentheorie durch.

«Wie kann älteres über jüngerem Gestein liegen? Ein Rätsel, das Geologen fast ein Jahrhundert Kopfzerbrechen bereitete.»

VOLKSGLAUBE TRIFFT WISSENSCHAFT
Im Kamm der Tschingelhörner gähnt ein gewaltiges Felsentor: das Martinsloch. Entstanden ist es durch einen Hebungsbruch in einer weichen Schieferschicht, so lautet die nüchterne Wissenschaftserklärung. Die volksnähere Variante erzählt, der Heilige Martin habe das Loch geschlagen, als er seinen eisenbeschlagenen Hirtenstab nach einem Schafsdieb schleuderte. Wie dem auch sei: Die Einwohner von Elm im westseitigen Talgrund nutzten den Durchguck als Sonnenuhr. Zweimal im Jahr erleuchtet die Sonne durch das Martinsloch die Dorfkirche. «Aber auch die sieben Gasthäuser von Elm sind so platziert, dass sie zweimal jährlich in den Genuss der Martinsstrahlen kommen», sagt Buckingham. Mit Blick auf das Naturdenkmal klettert der Pfad zum Segnaspass hinauf. In das Grau der Felsen schmiegt sich dort die Mountain Lodge, eine Militärbaracke, die 2007 zur Wanderherberge umgebaut wurde. Trotz spartanischer Einrichtung zaubert Hüttenwartin Sabine Busslehner ein köstliches Abendessen. Die gelernte Computerfachfrau gönnt sich gerade eine Auszeit, wie sie es nennt: händisches Werken statt kopflastiger Job. Die Abgeschiedenheit lasse einen wieder zu sich selbst kommen, und, so fügt sie in ihrer ansteckend fröhlichen und entspannten Art hinzu: Zeit bekomme hier eine andere Bedeutung. Das passt, hier in diesem Zeitarchiv. Und jetzt, während die Schatten langsam die Talfalten füllen und das Martinsloch als mystische Lichtellipse über die Felsen tanzt, würde jeder den morgigen Abstieg aus dem Zeitarchiv gerne hinauszögern.

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