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Hinter der Strasse liegt die Wildnis - unterwegs im Nationalpark

Iris Kürschner, Montag, 01. Oktober 2018

Er ist der älteste Nationalpark der Alpen. Ein Stück unberührter Natur im Engadin. Vor allem im Herbst zur Hirschbrunft lockt ein Vier-Tages-Trek durch den Schweizerischen Nationalpark. Unterwegs mit einem Parkwächter.

Ein kehliges Klagen hallt durch das Tal. Schwillt an, wird wieder schwächer. Fast unheimlich hallt es von den Wänden wider, die wie Wüstenberge wirken. Rinnen und Muren fliessen in goldenen Farben gen Tal, wo sie von dichten Wäldern verschluckt werden. Domenic Godly kommt oft in den Genuss der einzigartigen Stimmung hier im Schweizerischen Nationalpark. Heute Morgen steigt er mit zwei Wanderern vom Ort Zernez im Engadin zur Berghütte Chamanna Cluozza auf. Die drei stehen im Schatten mächtiger Bergkiefern über dem Cluozza-Bach und blicken auf die karge Landschaft hinaus. Es ist Herbst und die Brunft der Hirsche in vollem Gange. «Vor hundert Jahren waren die Rothirsche hier quasi ausgerottet», erzählt Domenic. Heute leben wieder an die 2000 Hirsche im Nationalpark. Der viertägige Trek, auf dem die Gruppe unterwegs ist, bietet jede Menge Gelegenheit, Hirsche und zahlreiche andere Tiere aufzuspüren. Die Tour orientiert sich an der Ofenpassstrasse, die von Zernez ins Val Müstair und weiter nach Südtirol führt. Sie teilt den Nationalpark in eine Nord- und eine Südhälfte. Die ersten beiden Tage der Wanderung verlaufen von Zernez aus südlich der Strasse nach Osten. Die beiden letzten Etappen schlagen nördlich von ihr einen Bogen.

EIN SENSATIONSFUND

Zum Auftakt wandert die Gruppe zur einzigen Berghütte des Parks hinauf. Domenic geht mit raschen Schritten voraus. Wenn er keine Besucher führt, passt er als einer von acht Parkwächtern auf, dass die schützenden Regeln im Nationalpark eingehalten werden. Ausserdem überwacht er den Tierbestand, kümmert sich um die Instandsetzung von Wegen, Brücken und Hütten und unterstützt Forschungsprojekte. Der 60-Jährige ist unglaublich fit. Das muss er auch sein, denn er ist bei jedem Wetter unterwegs, tagaus tagein, auf Wegen und querfeldein. Einmal, den Tag wird er nie vergessen, traf er auf ungewöhnliche Abdrücke im Fels: Dinosaurierspuren – ein Sensationsfund. Damals stieg Domenic den Grat des Spi da Tantermozza hinauf. Kein Wanderer hatte jemals zuvor einen Fuss dorthin gesetzt, dafür aber ein Prosauropode. Der Pflanzenfresser hinterliess gigantische Fussabdrücke in einer Felsschicht aus der Triaszeit. «220 Millionen Jahre alte Spuren zu finden, die so gut erhalten sind, das war schon ein kribbeliges Gefühl», sagt Domenic rückblickend. Jede einzelne der vier Krallen war genau erkennbar; das Riesentier mit einer Körperlänge von fünf bis acht Metern pflegte auf zwei Beinen zu gehen. Bereits 1961 entdeckten Geologen auf einer Felsplatte des Piz dal Diavel Dinosaurierspuren. Die Urtiere spazierten dazumal am Rande eines seichten Ozeans, dessen Schichten erst während der Alpenbildung an ihren heutigen Standort gelangten.

SEHNSUCHTSORT

Das Revier der Saurier sieht man von der Cluozza-Hütte aus. An ihrer Balustrade späht ein 13-Jähriger mit dem Fernrohr in der Dämmerung jedoch nach kleinerem Wild: nach Hirschen, Rehen und Gämsen. Seit acht Jahren führen seine Eltern die Nationalparkhütte, ein verwunschenes Blockhaus. Marlies und Jürg Martig haben sich mit ihrem Sohn Tim einen Traum erfüllt: Jürg, eigentlich Bergführer, wollte sich schon lange als Hüttenwirt versuchen, doch Marlies scheute die unwirtlichen Höhen. Als die Familie 2009 zufällig hier vorbeiwanderte, war es Liebe auf den ersten Blick. «Hier kannst du nicht abstürzen und musst dich auch nicht mit Gletschern auseinandersetzen », erklärt Marlies und schmunzelt. Die Hütte Liegt auf 1882 Metern, unweit der Ofenpassstrasse und doch an einem weltentrückten Flecken. Dass man diese stille Schönheit geniessen kann, ist den Botanikern und Forschern zu verdanken, die 1914 im Val Cluozza den Grundstein zum Schweizerischen Nationalpark legten. Der Raubbau an der Natur wurde in jener Zeit immer deutlicher. Die Wissenschaftler wollten eine Oase schaffen, in der die Natur sich selbst überlassen bleibt und wo sie ihre Entwicklung erforschen können. Mit den Jahren wuchs der Nationalpark im Osten Graubündens über das Val Cluozza hinaus auf jetzt 170 Quadratkilometer, was in etwa der Grösse des Kantons Appenzell-Innerrhoden entspricht. Wanderwege mit einer Gesamtlänge von 80 Kilometern durchziehen ihn. Einst diente das Wegenetz der Alp- und Holzwirtschaft, dem Bergbau und der Säumerei.

DEM WILD AUF DER SPUR

Seit der Mensch die Natur in Ruhe lässt, kommen die urwüchsigen Bergföhren wieder zu ihrem Recht, eine für die Gegend typische Unterart der Bergkiefer. Und auch die Tiere haben sich aufgrund des Wegegebots an die Wanderer gewöhnt und zeigen weniger Scheu als anderswo. Das merkt man sofort, wenn man in rund zwei Stunden von der Chamanna Cluozza zum breiten Sattel des Murter hinaufwandert. Hier und da blinzeln Murmeltiere aus ihrer Deckung, und oben am Pass grasen ganze Herden von Steinböcken, Hirschen und Gämsen. Mit etwas Glück sieht man sogar Bartgeier in den Aufwinden schweben. Diese nützlichen Aasfresser wurden Ende des 19. Jahrhunderts ausgerottet, konnten aber erfolgreich wieder angesiedelt werden. «Über zwei Dutzend junge Bartgeier hat man zwischen 1991 und 2007 im Rahmen eines internationalen Projekts im Park ausgesetzt», berichtet Domenic. Die Unterengadiner Dolomiten und das Ortlermassiv ziehen den Blick auf sich, und man muss sich zwingen, auf den Pfad statt in die Gegend zu schauen. Türkisblau leuchtet der Fluss Spöl aus den dunklen Wäldern herauf. Weiter unten im Tal lässt ihn eine Staumauer anschwellen. Die Engadiner Kraftwerke nutzen den Spöl seit den 1950er-Jahren, allerdings dürfen sie nicht das ganze Wasser zur Stromerzeugung verwenden, sondern müssen dem Fluss einen grösseren Teil als gewünscht überlassen. Das Rauschen kommt näher; in engen Kehren führt der Pfad vom Berg in den kleinen Canyon des Spöl. Eine Brücke bringt Wanderer schliesslich über den Schlund.

EIN HAUCH VON ROCKY MOUNTAINS

Jenseits steigt man zur Bushaltestelle Vallun Chafuol auf. Eine in der Schweiz eigentümliche Landschaft breitet sich aus: weitläufige Bergföhrenwälder eingerahmt von schroffen Dolomitgipfeln und weichen Schuttkegeln. Man fühlt sich in die Rocky Mountains versetzt. Weil die Wanderwege im Wald verlaufen, bietet eine Fahrt mit dem Postauto den besten Blick – und eine auch von müden Beinen geschätzte Abkürzung zum Hotel Süsom-Givè am Ofenpass. Mit «auf der Schulter» lässt sich der Name des Hotels übersetzen, sagt Peider Andri Toutsch, der die Herberge in dritter Generation führt. Chamanna für Hütte, Vallun für Tal, Piz für Gipfel – man befindet sich in einem fremden Sprachraum. Rätoromanisch klingt italienisch – und ist doch ganz anders. Mit «Allegra», «Freue dich», grüsst man sich hier. Peider kocht wunderbar. Maronisuppe, Capuns und Gemspfeffer kommen auf den Tisch. Durch die Panoramafenster sieht man den Ortler in den Himmel wachsen, und weit unten badet das grüne und herbstlich verfärbte Band des Val Müstair in der Sonne. Vom Hotel führt der Weg in den Schatten von Kiefern. Weich federn die Schritte auf trockenen Nadeln. Es riecht nach Badezusatz. Zwischen den Bäumen hindurch blinzeln nahe Gipfel wie der Piz Daint. 

KNORRIGE ZEITZEUGEN, BIZARRE FELSEN

Schritt für Schritt steigt man zu einem Pass auf, dem Übergang ins Val S-charl. Hier weiden Kühe und Pferde auf weiten Wiesen: Das Val S-charl liegt schon knapp ausserhalb des Parks. Dabei inspirierte gerade das idyllische Tal die Pioniere zur Gründung des Nationalparks, besonders der God Tamangur, der höchste Arvenwald Europas. Seine knorrigen, uralten Bäume strecken ihre Äste aus, ein wilder Pfad führt sanft hinab ins Zauberreich. Vögel flattern in den Kronen, Sonnenstrahlen spielen auf den runzligen Stämmen. An einer verfallenen Alphütte verlässt der Weg den Schatten der Bäume und folgt bald dem munter plätschernden Clemgia-Bach nach S-charl, einer ehemaligen Bergknappensiedlung. Im Sommer herrscht zwischen ihren Häusern und um den Brunnen reger Betrieb, denn ein Strässchen von Scuol im Unterengadin erlaubt die Zufahrt mit dem Auto.

Nur einen Katzensprung talabwärts taucht der Wanderer wieder in die Stille des Nationalparks ein. Vom Val Mingèr, einem Seitental des Val S-charl, steigt er hinauf zum Pass der Fuorcla Val dal Botsch. Karge Felsen lösen die wettergegerbten Arven ab, die Erosion hat faszinierende Skulpturen geschaffen. Zurück an der Ofenpassstrasse streckt man am historischen Hotel Il Fuorn die Füsse von sich, ein Bier zischt die Kehle hinunter, und die Gedanken schweifen: Sollte man nicht morgen noch die gut 1480 Höhenmeter von Zernez aufsteigen, zur Seenplatte von Macun? Die Karseen gehören seit dem Jahr 2000 zum Nationalpark und sind ein echtes Landschaftsjuwel. «In der Erdgeschichte sind wir nichts als Wolken», sinniert Domenic. «Wir sind nur auf der Durchreise. Und in unserer kurzen Zeit müssten wir für die Natur und ihre Schätze viel mehr Sorge tragen.»

Infos

Anreise
Per Bahn nach Zernez (www.sbb.ch).

Information
Verkehrsverein Zernez, Tel. 081/856 12 82, www.zernez.ch
Schweizerischer Nationalpark, Besucherzentrum in Zernez, mit Dauer- und Wechselausstellung, geöffnet Mai bis Ende Okt. tgl. 8.30 bis 18 Uhr, Tel. 081/ 851 41 41, www.nationalpark.ch

Route
1.Tag: Zernez (1471 m) – Chamanna Cluozza (1882 m): 3-4 Std., Aufstieg 640 Hm, Abstieg 240 Hm. Von Zernez kurz der Strasse Richtung Ofenpass entlang bis zu einem Parkplatz. Dort rechts über eine mit Holz gedeckte Brücke, dann links einem Feldweg nach zunehmend ansteigend in den Wald. Am Rande der Cluozza-Schlucht bergwärts bis zur Lichtung il Pra und mit feinen Ausblicken hinunter ins Val Cluozza. Vom Bach folgt nur noch ein kurzer Gegenanstieg zur Hütte.
2.Tag: Chamanna Cluozza – Murter (2545 m) – Praspöl – Vallun Chafuol/Bushaltestelle (1780 m): 5 Std., Aufstieg 800 Hm, Abstieg 900 Hm. Hinter der Hütte steil bergwärts zum östlich gelegenen ausladenden Sattel Murter, dann in vielen Kehren zur Lichtung Plan Praspöl hinunter und an der Weggabelung links zur Brücke über den Spöl. In kurzem Gegenanstieg erreicht man die Bushaltestelle Vallun Chafuol. Der Bus zum Ofenpass fährt stündlich.
3.Tag: Ofenpass (2148 m) – Fuorcla Funtana da S-charl (2393 m) – Alp Astras – God Tamangur – S-charl (1810 m): 5 Std., Aufstieg 290 Hm, Abstieg 630 Hm. Gleich auf der anderen Strassenseite beim Hotel in den Wanderweg und durch herrlichen Nadelwald mit feiner Schau auf den Piz Daint zu den Wiesen der Plaun da l'Aua. Dann linkshaltend hinauf zur Fuorcla Funtana da S-charl, dem Übergang ins Val S-charl. Abstieg zur Alp Astras, wo man den Fahrweg links ignoriert, weil die ausgeschilderte Route durch den Tamangur-Wald um ein vielfaches idyllischer ist. Bei der verfallenen Alphütte von Tamangur Dadora zieht der Pfad zum Hauptweg hinunter und es geht der Clemgia entlang zur ehemaligen Bergbausiedlung S-charl
4.Tag: S-charl – Pradatsch (kann auch mit dem Postauto abgekürzt werden) – Val Mingèr – Sur Il Foss – Fuorcla Val dal Botsch (2677 m) – Hotel Il Fuorn (1794 m): 6.30 Std., Aufstieg 1080 Hm, Abstieg 940 Hm. Vom Dorf an der Strasse hinunter bis zur Bushaltestelle am Einschnitt des Val Mingèr. Links über die Brücke und südwestlich durch das Val Mingèr zum Sur il Foss. Man steigt kurz in den Talschluss des Val Plavna ab, um sich dann durch eine Schuttflanke zur südwestlich gelegenen Fuorcla Val dal Botsch hinauf zu schuften. Die Belohnung: einmalige Ausblicke. Steil hinunter durch das Val dal Botsch zur Ofenpassstrasse und rechts zum Hotel il Fuorn.
Extra-Tag: Von Zernez mit dem Macun-Shuttletaxi von Hagen Dix (Reservierung Tel. 079/103 20 20) zur Waldgrenze am Munt Baselgia (spart 8 km Aufstieg). Plan Sech (2268 m) – Munt Baselgia – Fuorcla da Barcli (2850 m) – Macun-Seen – Alp Zeznina – Lavin Bahnhof (1412 m): 5-6 Std., Aufstieg 685 Hm, Abstieg 1520 Hm.

Unterkünfte
Chamanna Cluozza, geöffnet von Mitte Juni bis Mitte Okt., Tel. 081/856 12 35. Hotel Süsom Givé am Ofenpass, Mai bis Ende Okt. Tel. 081/858 51 82. Gasthaus Mayor in S-charl, Juni bis Ende Okt., Tel. 081/864 14 12, www.gasthaus-mayor.ch. Hotel Il Fuorn, Tel. 081/856 12 26, www.ilfuorn.ch.

Karten
Swisstopo 1:50 000, Blatt 259T Ofenpass.

Hirschbrunft
Während der Zeit der Hirschbrunft werden von Parkrangern geführte Touren angeboten. Gute Beobachtungsplätze für die Hirschbrunft sind das Val Trupchun, der Murtersattel und das Val Mingèr.

Gute Aussichten
Nur 30 Minuten Gehzeit vom Ofenpass wartet die Bergkuppe Il Jalet mit einem eindrücklichen Szenario an bizarren Felsformationen. Edelweissteppiche säumen den Wegesrand, und man schaut weit übers Münstertal bis zum Ortler.

Alles Käse
Bevor man sich im Val S-charl in den Zauberwald des God Tamangur aufmacht, sollte man unbedingt auf der Alp Astras leckeren Bergkäse für sein Picknick einkaufen.

Digitale Spurensuche
Der digitale Wanderführer „iWebPark“ kann auf das persönliche Smartphone heruntergeladen werden. Er informiert über 400 Points of Interests entlang des Wanderwegenetzes. Daneben können der eigene Standort auf der Karte verfolgt, ein Höhenprofil abgerufen oder verschiedene Bestimmungsschlüssel angewandt werden. Geräte können auch im Besucherzentrum gemietet werden.

Bergbau & Bären
In S-charl lohnt der Besuch des Bergbaumuseums. Die Ausstellung informiert auch über die Rückkehr der Bären. Geöffnet bis 21. Oktober 14 bis 17 Uhr, Mo. und Sa. geschlossen, www.schmelzra.ch. Ausserdem gibt es einen 2-stündigen Bärenerlebnisweg, den Senda da l'uors, mit neun interaktiven Stationen.

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