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Wegweiser Tessin - Im Wandel der Zeit

Iris Kürschner, Mittwoch, 16. Juni 2021

Zwischen dem Centovalli und dem Lago Maggiore könnten die Kontraste zwischen Trubel und Ruhe nicht grösser sein. Die Wanderung über die Via del Mercato, das abgeschiedene Bergdorf Rasa und den Pizzo Leone entführt in eine Oase stiller Natur. 

In den dunklen Tagen des Jahres 1940 durchwanderte ich ein einsames Tessiner Bergtal. Hoch über der Strasse lockte ein kleines Dorf, das wie ein Nest an der Felswand zu kleben schien. Unter der Tür eines winzigen Hauses sass eine alte Frau in den kostbaren Strahlen einer seltenen Sonnenstunde. Ihre Hingabe an die segnende Wärme, in Verbindung mit vollkommener Stille, schien mir so sehr ein Gebet, dass ich mich scheu zurückzog.»

Die berührenden Worte und Bilder des Fotografen Rico Jenny aus Tegna begleiten mich auf dem Weg durch das Centovalli. Ein Tal mit so vielen Furchen, dass man ihm den Namen «100 Täler» gab. Furchen, die auch die Porträts von Rico Jenny zeichnen. Manche Dörfer auf der Schattenseite bekommen im Winter kaum einen Strahl Sonne ab. Auf der Sonnenseite hingegen gedeihen Reben bis auf 800 Metern Höhe. Dennoch war ein Auskommen für die ganze Familie in dem steilen, unwegsamen Gelände nicht leicht zu erreichen: Viele wanderten aus oder mussten sich als «Spazzacamino», als Kaminfeger, schon im Bubenalter verdingen. Im «Museo Centovalli e Pedemonte» in Intragna können Besucher in einen dieser engen Kamine hineinschauen, in die sich einst Achtjährige hineinzwängen mussten. Man kann die Angst, darin zu ersticken, nachfühlen. Auch die Bilder des Fotografen Jenny hängen dort.

«Das Museum ist kein Ort, um alte Dinge zu konservieren», sagt der junge Kurator Mattia Dellagana. «Sondern ein Ort des Austausches und der Inspiration. Nicht vergangenheits-, sondern zukunftsorientiert.» Das Museum liegt direkt an der Via del Mercato, dem Marktweg und der lange Zeit einzigen Verbindung zwischen Domodossola und Locarno. Sie wurde vor allem von Händlern, Holzfällern, Hirten und Emigranten genutzt. Eine geschichtsträchtige Route, die heute als Wanderweg mit der Nr. 631 ausgeschildert ist und einen intensiven Eindruck vom Centovalli vermittelt. Genau der richtige Start für meine Wanderung über den Kamm, der das Centovalli vom Lago Maggiore trennt, nach Ascona. Man könnte die Wanderung in einem Tag absolvieren, doch sind die Erlebnisse nicht viel nachhaltiger, wenn man sich Zeit nimmt? Schon eine erste Übernachtung in Intragna bringt einem den Esprit des archaischen Ortes nahe. Die zweite Nacht plane ich in Rasa, dem Dorf ohne Strasse, die dritte in Arcegno oder am Monte Verità – dem Berg der Wahrheit. Die Tour könnte nicht besser in unsere Zeit passen.


Mit 65 Metern Höhe ist der Kirchturm von Intragna der höchste Campanile des Tessins.


Im Wandel der Zeit

Nicht nur Mattia Dellagana ahnt, dass wir uns im grössten Wandel der Menschheitsgeschichte befinden. «Meine Grossmutter zählt zu der Generation, die den gesamten Fortschritt und Wandel des 20. Jahrhunderts in einem einzigen Leben erfuhr. Sie wuchs noch ohne Strom und Heizung als Selbstversorgerin auf. So viel Wandel innerhalb nur einer Generation ist beispiellos», reflektiert der Kurator. «Früher ging es um das Wesentliche, um Qualität, heute um Quantität, um Überfluss.» Aber macht es uns glücklicher, fragen seine Augen. Nein, eher unzufriedener. Wie nutzen wir heute unsere Zeit? Oftmals steht der Konsum im Vordergrund, die Sucht nach dem Haben unterbindet das Sein. Gedanken, die mich auf der Via del Mercato begleiten und mich schliesslich auf das fokussieren lassen, was im Hier und Jetzt passiert. Die Vögel zwitschern, es riecht nach üppiger Natur. Palmen lugen zwischen Laubbäumen hindurch, Blüten verströmen verführerische Düfte, das Wasser plätschert. In einer Falte verbirgt sich eine Mühle an Teichen, in denen die Sonne glitzert, von Azaleen umsäumt. Eine steinerne Bogenbrücke führt über den Bachgraben, es geht an einem kunstvoll bemalten Marienschrein vorbei. Genauso kunstvoll ist mitunter der Weg gepflastert, wie es sich für eine Mulattiera, einen Maultierpfad, gehört. Doch Infrastruktur und Manpower von damals hatten ihre Grenzen, nicht alles konnte transportiert werden, so Dellagana. Daher war der Handel auf Dinge spezialisiert, die man nicht selbst herstellen konnte.

In leichtem Auf und Ab folge ich dem Pfad weiter, mal balanciert er an Felswänden entlang, mal durch terrassiertes Gelände, wo einst Getreide und Gemüse gedeihten, dann wieder durch Dörfer. Die Dörfer liegen alle an der Via del Mercato und nicht an der heutigen Hauptstrasse, die tiefer unten verläuft und erst Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut wurde. Ob man wirklich von allen Dörfern den Kirchturm von Intragna sieht? Genau aus diesem Grund, vermuten manche, soll er in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so hoch errichtet worden sein, dass er bis heute mit 65 Metern den Superlativ «höchster Campanile des Tessins» belegt. Ein Blick von oben lohnt sich: Man sieht weit, aber auch tief. Unter einem sogar das Dach des Albergos Antico, wo es sich herrlich in mittelalterlichem Flair nächtigen lässt. Weil es als Bed & Breakfast allerdings nur Frühstück anbietet, speise ich abends im Grotto Maggini unten am Fluss. Dort entdecke ich nicht nur köstliche Speisen, sondern auch die Leidenschaft des Wirts für guten Kaffee.

Drei Monate des Experimentierens habe es gebraucht, erzählt Fabio Minesso, um eine ausgewogene Mischung aus den Bohnen zu kreieren, die er einmal pro Woche selbst röstet. Das Fingerspitzengefühl dafür habe er von seinem Grossvater gelernt. Neben Salz und anderen Lebensmitteln wurde auch Kaffee auf der Via del Mercato transportiert. Dass diese Geschäfte etwas eingebracht haben müssen, zeigen die Patrizierhäuser von Verdasio, dreieinhalb Fussstunden von Intragna entfernt. In Verdasio biege ich von der Via del Mercato ab, um zur Seilbahn von Rasa zu gelangen. Diese hievt mich auf eine Höhenterrasse, auf der einem das Herz aufgeht und auf der einen Frieden einfängt.


Klettern und geniessen: Das Klettergebiet Arcegno liegt rund 400 Meter oberhalb von Locarno.


Ruhendes Rasa

Das ganzjährig bewohnte, autofreie Bergdorf ist Ausgangsort für unzählige Wanderungen. Zudem lockt es mit seiner Abgeschiedenheit: Mehr denn je suchen Menschen stille Flecken, wo der Trubel der Welt fernbleibt. Sonnenstrahlen streifen durch die steingepflasterten Gassen, eine Katze sonnt sich auf einem Fenstersims. Der Blick schweift weit über die Furchen des Centovalli. Am südwestlichen Horizont glitzern einige Gletschergipfel der Walliser Alpen. Doch das idyllische Bilderbuchdorf war stark von der Landflucht betroffen: Von den ehemals 200 schrumpfte Rasa auf zehn Einwohner. Ein Glück, dass Anfang der 1960er-Jahre Hans Bürki auf einer seiner Wanderungen vorbeikam. Er traf ein junges Ehepaar, das seinen Besitz im entvölkerten Dorf verkaufen wollte. Bürki schlug ein und renovierte mit zahllosen Freiwilligen verlassene Häuser. Daraus entstand das Bildungs- und Ferienzentrum Campo Rasa, in dem Wanderer sehr heimelig übernachten können. Betrieben wird es von den «Vereinigten Bibelgruppen in Schule, Universität und Beruf», kurz VBG – einem Netzwerk evangelischer Christen, dessen Mitbegründer Bürki ist. Zum Essen im Campo gehört das Tischgebet, ansonsten sind sämtliche geistlichen Angebote freiwillig.

Für den Aufstieg zum 1659 Meter hohen Pizzo Leone breche ich am frühen Morgen auf. Steile Wege führen auf diesen fantastischen Aussichtsgipfel auf dem Kamm zwischen Centovalli und Lago Maggiore. Wege, die wilde Tobel streifen, in denen noch lange Schnee liegen kann. Die Naturgewalten des Winters geben den Wegbauern jedes Jahr mühsame Renovierungsarbeiten auf. Das Besondere an der Route ist der «Aha-Effekt»: Wenn schlagartig der Wald am Kamm zurücktritt und offenen Alpgründen Platz macht – als würden sie direkt in den See fallen. Man fühlt sich frei wie ein Vogel, auch ohne Flügel. Winzige Boote ziehen weisse Gischtstreifen durch den Alpenfjord, direkt unter den Füssen lassen sich die Brissago-Inseln ausmachen. Der aussichtsreiche Abstieg führt durch alle Vegetationsstufen. Die alpine Flora wechselt in die mediterrane, das Karge ins Üppige.

Das Villenviertel lasse ich rechts liegen, schwenke nach links und finde in Arcegno eine Herberge, die so ganz im Kontrast zum touristischen Rummel vom nahen Ascona steht. Das Hotel Zelindo ist eine Oase in stiller Natur. Ich fühle mich hier wie bei Freunden. Das Wirteehepaar, Wendy und Andrea, versprüht eine ansteckende Heiterkeit und verwöhnt mit bodenständiger Küche. Am nächsten Morgen tauche ich tiefer in die Hügelwelt rund um Arcegno ein: Eine abgefahrene Landschaft aus Gletscherschliff, die heute beliebte Kletterfelsen sind. Voller Rundhöcker in einem Labyrinth aus Senken und Mulden, in denen sich Tümpel und Biotope gebildet haben. Voller Kraftorte, sagen die Mystiker, und prähistorischer Kultplätze. Am Balladrum, einem der Ausguckhügel, stösst man beispielsweise auf Reste einer Ringmauer, am Hügel Barbescio auf Schalensteine, in die Kelten ihre Opfergaben legten.


Am Monte Verità und der Hügelwelt dahinter erhascht man immer wieder hübsche Ausblicke zum See.


Der Eremit von Arcegno

Man kann das «Valletta del Silencio» (Tälchen der Stille) aufspüren oder die Heidenhöhle. Beides unbeschildert und spannend, einsam und inspirativ. In Letzterem fand Gustav Arthur Gräser, den alle nur Gusto nannten, sein Lebensideal: die wahre Freiheit durch den Verzicht unnötiger Dinge. «Manche sehen in ihm heute einen ‹Gandhi des Westens›, der sich gewaltlos gegen die Bevormundung und Versklavung des Menschen wehrte», schreibt Elmar Good in seinem Werk «Magisches Tessin». In der Waldgrotte, die ihm die Gemeinde Losone 1902 schenkte, lebte Gräser jahrelang als Eremit. Er lief barfuss, ernährte sich vegan, zelebrierte Mondscheintänze und war beliebte Anlaufstelle der «vegetabilischen Cooperative» des Monte Verità, die er zuvor mit seinem Bruder und anderen gegründet hatte. Revoluzzer, Utopisten, Weltverbesserer, Prominente, Künstler und Poeten suchten am Monte Verità eine neue Lebensform. Unter den Einheimischen trugen sie den Spitznamen «Balabiotti» (Nackttänzer). Auch Hermann Hesse wandelte gerne nackt durch den Wald von Arcegno und philosophierte mit Gräser. Ich habe Glück und finde die einsame Höhle. Ein kühler Hauch strömt aus ihr und doch pulsiert starke Energie, die einen von innen wärmt. Als würden sie hier noch sitzen und tiefgründigen Gedanken nachgehen. In der Stille wirst du Reichtum finden, soll Gräser dereinst gesagt haben.

Fotos © Iris Kürschner 

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