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«Haben die schon Käse gemacht?»

Thomas Ebert, Montag, 27. Juli 2020

Prof. Dr. Albert Hafner von der Universität Bern hat zu Beginn des Jahrtausends am Schnidejoch die bis heute bedeutendsten archäologischen Gletscherfunde in der Schweiz untersucht. Ein Gespräch über schmelzende Gletscher und ihre Geheimnisse, die Grenzen zwischen Archäologie und Kriminalistik und was im Fall eines Fundes zu tun ist.

Prof. Dr. Albert Hafner von der Universität Bern hat zu Beginn des Jahrtausends am Schnidejoch die bis heute bedeutendsten archäologischen Gletscherfunde in der Schweiz untersucht. Ein Gespräch über schmelzende Gletscher und ihre Geheimnisse, die Grenzen zwischen Archäologie und Kriminalistik und was im Fall eines Fundes zu tun ist.


Herr Professor Hafner, zu Beginn eine etwas ketzerische Frage: Sind Gletscherarchäologen die heimlichen Profiteure des Klimawandels?
Im Prinzip ist das schon so. Die Gletscher gehen ja seit ca. 1850 zurück, und zwar in einem Masse wie noch nie. Die Alpen waren niemals so eisfrei wie jetzt. Wahrscheinlich werden die Alpengletscher total abschmelzen. Also kann man zwar schon sagen, dass die Disziplin der Gletscherarchäologie durch den Klimawandel befördert oder gar erst entstanden ist. Aber wir Archäologen freuen uns natürlich nicht über den Klimawandel, sondern wir reagieren darauf.

Ihr grösster Fund war am Schnidejoch in den Berner Alpen, zwischen 2004 und 2012. Wie kam es dazu?
Eigentlich ist die Unterwasserarchäologie mein Hauptforschungsgebiet. Ich habe viele prähistorische Seeufersiedlungen untersucht, am Bodensee und am Bieler See zum Beispiel. Dann wurden aber 2003 am Schnidejoch erste spannende Objekte auf einem Eisfeld entdeckt, die es zu überprüfen galt. Ich kannte das Gebiet, weil es eines der beliebtesten Skitourengebiete im Kanton Bern ist. Und weil von meinen Kollegen niemand so recht gehen wollte – man muss immerhin vier Stunden bergauf gehen um das Joch zu erreichen – haben wir ein Dreierteam aufgestellt, zusammen mit der SAC-Tourenleiterin Kathrin Glauser und Urs Messerli, aus meinem Tauchteam. Die Funde vom Schnidejoch waren ja auch nass vom Schnee und Eis und ähnelten so den Funden aus den Seen.

Wie lange haben Sie am Schnidejoch gegraben?
In den ersten Jahren haben wir von Mitte August bis 1. Oktober mehr oder weniger aus dem Rucksack gelebt, waren vier bis fünf Tage die Woche unterwegs.

Haben Sie am Gletscher biwakiert, oder gab es ein Basislager?
Wir hatten auf der Wildhornhütte des SAC ein Basislager. Die Hütte liegt eine Stunde unterhalb vom Schnidejoch. Willy Romang, der Hüttenwart hat uns Platz im Keller eingeräumt für das Material. Und oben vor Ort hatten wir noch ein Depot mit Kisten und Werkzeug. Das Fundmaterial haben wir immer direkt mitgenommen.

Mit welcher Ausrüstung arbeitet man bei Funden im Eis?
Ausser einem Metalldetektor hatten wir noch kleine Kellen dabei. Aber die Objekte waren so fragil, dass wir das meiste oft mit Wasser rausgelöst haben. Und gewartet, bis die Sonne kommt und es rausschmilzt.

Man gräbt also nicht wirklich, sondern befreit nur das, was ohnehin sichtbar wird durch die Ausaperung?
Genau. Aber zu dieser Zeit, also 2004 und 2005, ging die Ausaperung so dermassen schnell! Wir verliessen an einem Freitag das Schnidejoch, und schon am Sonntag meldete der Hüttenwart, dass schon wieder komische Dinge zum Vorschein kämen. Also sind wir am Montag sofort wieder hoch. Zuerst dachten wir an eine alte Militärplane, aber dann war es tatsächlich ein Legging, also ein Hosenbein, ein fantastischer Fund. Sie muss gerade aus dem Eis herausgekommen sein, denn sie hat tatsächlich noch nach Leder gerochen, nach 5000 Jahren! Der Geruch ging dann natürlich schnell verloren.

Nach mehreren Tausend Jahren auf einmal ein Wettlauf gegen die Zeit?
Es war schon gut, dass wir schnell da waren. Das Hosenbein aus Ziegenleder war zusammengenäht mit filigranen Fäden aus Lindenbast, die waren sogar auch noch da. Aber nach Wochenfrist hätte die starke Sonneneinstrahlung das Leder sicher schnell ausgetrocknet, und dann wäre der Legging vom Wind verblasen worden.

Vom Besitzer der Hose haben Sie aber keine Spur gefunden?
Leider nicht. Kein Objekt bietet so viel Einblicke wie ein Mensch selbst. All die Untersuchungen zur Genetik, zu Ernährung und Krankheiten des berühmten Ötzi haben die gesamte Wissenschaft enorm weitergebracht. Es gibt keine Person auf der Welt, die so gut untersucht ist wie der Ötzi. Am Schnidejoch haben wir aber keine Überreste gefunden, sondern «nur» die Ausrüstung einer Person: Umhang, Hose, Schuhe, Bogen, Pfeile.

Wo ist der Mensch dazu – was ist ihre Theorie?
Ich denke, dass das Schnidejoch ein regelmässig begangener Pass war. Wenn dort oben jemand liegenblieb, wurde er mitgenommen. Das ist nicht wie heute im Himalaya, wo man an den Leichen vorbeiläuft. In der Zeit, aus der die Funde vom Schnidejoch stammen, hat man in Sion zwei grosse Dolmen gebaut. In diese Kollektivgräber mussten alle rein, das verlangte der Ahnenkult. Die Lebenden müssen für die Toten sorgen. Erst wenn sie ordentlich bestattet sind, irren sie nicht als Gespenster herum und machen Vieh und Menschen krank. Deshalb wurde er mitgenommen.

Und seine wertvolle Ausrüstung bleibt an Ort und Stelle liegen?
Ja, es scheint so. Bogen und Pfeile könnten auch tabuisiert gewesen sein. Offensichtlich wurde nur der Tote mitgenommen.

Abgesehen vom handwerklichen Können – was erzählen uns Funde aus dieser Zeit?
Das ganze Technologische kennen wir ja inzwischen sehr gut – die Fähigkeiten, Bogenequipment, Waffen, Kleidung, Hosen etc. zu fertigen. Spannender ist heute, dass Menschen überhaupt so früh in die Berge gingen. Der Fund des Ötzi von 1991 war in dieser Hinsicht ein Schock: Bis dahin galt das Dogma, dass bis zur Geburt des Alpinismus niemand wirklich am Gebirge interessiert war. Die Alpen waren ein Ort, wo man nicht freiwillig hinging. Beim Schnidejoch haben wir aber Funde, die ich als Teile von Zäunen interpretiere. Ich kann mir nur vorstellen, dass Menschen von der Südseite aus dem Wallis – dessen Klima heute zwar gut für Aprikosen und Wein ist, aber weniger für Viehfutter – über den Pass gekommen sind und auf der Nordseite Alpwirtschaft betrieben haben. Unten an den schönen Matten vom Iffigsee, geschützt vor Steinschlag und Lawinen. In den Sedimenten des Sees haben Biologen Tieren- und Pflanzenreste gefunden, die eindeutig aus Weidewirtschaft resultieren. Ich schlussfolgere daraus, dass der Mensch schon viel früher als gedacht alpine Matten als Weideplätze genutzt hat, gut möglich schon im 5. Jahrtausend vor Christus.

Wie sah der Alltag dieser Menschen aus?
Die nächste Frage war natürlich: Haben die schon Käse gemacht? Wir haben ein verdächtiges Gefäss auf spezielle Fette untersuchen lassen, aber leider ohne präzises Ergebnis. Einfache Formen von Frischkäse aus Schaf- und Ziegenmilch wären aber sicher technologisch denkbar. Und auch die Kommunikation ist spannend. Wir stellen uns ja vor, dass der Steinzeitmensch in seiner Dorfhütte sitzt und nichts anderes kennt als die Gegend vor seiner Haustüre. Dabei war der Austausch viel reger, bestimmte Objekte aus dieser Zeit haben problemlos 500 bis 800 Kilometer überwunden. Und Mobilität heisst Austausch, Menschen ziehen vom einen Tal ins andere. Daran sind wir verstärkt interessiert, nicht so sehr an den Technologien der Objekte, auch wenn diese natürlich ein wichtiger Schlüssel sind. Das Besondere an Schnidejoch und Ötzi ist, dass die Nutzung der Alpen heute ganz anders gesehen wird als noch vor wenigen Jahren.

Gab es um die Funde am Schnidejoch auch so einen Medienhype wie beim Ötzi?
Wir kamen schon in die Medien. Vor allem auch deshalb, weil die Funde vom Schnidejoch älter waren als die vom berühmten Ötzi. Spannend ist aber auch, was innerhalb der Wissenschaft passierte. Nach den Schnidejochfunden haben wir 2008 die weltweit erste Tagung überhaupt von Gletscherarchäologen organisiert. Bis dahin gab es diese Disziplin quasi gar nicht. Aus einem geplanten Teamtreffen in Bern wurde dann eine Tagung mit 200 Leuten, aus Norwegen, Finnland, Alaska, Kanada. Zugleich war es die erste Tagung des damals neu eröffneten Oeschger-Zentrums für Klimaforschung in Bern. Das war wie eine Geburtsstunde der Gletscherarchäologie.

Die Gletscherarchäologie ist also eine junge Wissenschaft. Wie viele Wissenschaftler beschäftigen sich weltweit damit?
Ich würde sagen es gibt ungefähr 20 bis 30 Leute, die weltweit aktiv sind. Oft sind diese Leute beim Staat als Denkmalpfleger beschäftigt, und ohne viele freiwillige Helfer wären Projekte unmöglich. An der Uni Trondheim gibt es meines Wissens eine Vollzeitstelle für Gletscherarchäologie. Die Norweger haben derzeit am meisten zu tun, denn durch die nördliche Lage sind dort eben auch niedere Lagen vergletschert. Dort gibt es tausende potenziell verdächtiger Stellen, während es in den Alpen vielleicht Dutzende sind.

Welches Gebirge würde Sie als Gletscherarchäologe reizen?
Gerade plane ich ein neues Gletscherprojekt im Kaukasus. Wir versuchen mit der russischen Akademie der Wissenschaften eine Art Vor-Projekt auf die Beine zu stellen, um zu schauen, wie die Chancen stehen. Im Kaukasus ist eben alles nochmal ein Stück höher und stärker vergletschert. Dort vermute ich bessere Konditionen als in den Alpen.

Weil die Gletscher dort noch mächtiger sind?
Nein, eher weil dort noch so wenig untersucht wurde. Die grossen Gletscher sind für die Archäologen eigentlich uninteressant. Dort findet man vor allem Alpinisten, Wanderer, Opfer von Flugzeugabstürzen. Denn weil diese Gletscher fliessen, bewegen sich die Dinge darin, in archäologischen Massstäben, relativ schnell. Die meisten Gletscherleichen aus grösseren Gletschern sind in den letzten 50 oder 60 Jahren verunglückt – das sind Fälle für die Polizei, für die kriminalistische Rekonstruktion. Historisch interessant sind Gletscherleichen, wenn sie 200 oder 300 Jahre alt sind. Die findet man aber nicht in grossen Gletschern, sondern unter ganz speziellen Bedingungen. Ötzi und Schnidejoch haben gemein, dass sie nicht in Gletschern gefunden wurden, sondern in horizontalen Eisflächen. Wie kleine Wassermulden, die durchfrieren. Die Objekte liegen auf der Oberfläche und nehmen etwas mehr Sonnenenergie auf, und durch diese Wärme und das Eigengewicht schmelzen und sinken sie langsam in das Eis hinein. So werden sie fixiert und überleben sie die Zeit. Streng genommen ist der Ötzi eine Eismumie, keine Gletschermumie. Grosse Gletscher hätten ihn zu Brei zermahlen – wie etwa die Flugzeugteile der Dakota im Berner Oberland, die ja nur seit 70 Jahren im Eis waren.

Die Alpengletscher werden also nicht flächendeckend archäologisch untersucht, sondern man pickt sich topographisch interessante Stellen heraus.
Genau. Wir suchen systematisch an Stellen zwischen 2500 und 3500 Metern, nordexponiert, an flachen Passübergängen. Im Kanton Bern hat es vielleicht fünf solcher Stellen. Aber ausser am Schnidejoch und am Lötschenpass, wo wir massenhaft römische Schuhnägel mit dem Metalldetektor gefunden haben, waren wir nirgends erfolgreich. Die Kollegen im Wallis haben unsere eher intuitiven Auswahlkriterien mit aufwendigen Computersimulationen gestützt, aber auch nichts Besseres gefunden. In Zukunft wird es in den Alpen wohl bei einer Handvoll Fundstellen bleiben. Wenn etwas auftaucht, ist es aber meist sensationell.

Verfolgen Sie die Schicksale jüngerer Gletscherleichen, oder lässt das den Archäologen kalt?
Aber ja, das Ehepaar Dumoulin, das 2017 nach 75 Jahren auf dem Tsanfleuron-Gletscher entdeckt wurde, das hat in der Schweiz natürlich betroffen gemacht. Die Tochter lebte ja noch! Unvorstellbar, da gingen die Eltern nach dem Vieh schauen und kamen nie zurück. Und als japanische Touristen auftauchten, die in den 1960er Jahren verunglückt sind, da haben Washington Post und New York Times bei mir angerufen und gefragt: Hängt das jetzt mit dem Klimawandel zusammen? Aber Gletscherleichen sind natürlich immer schon am Fusse von Gletschern aufgetaucht, neu ist das nicht. Der Klimawandel beschleunigt nur das Auftauchen und Ausschmelzen dieser Leichen.

Diese mediale Aufmerksamkeit tut ihrem Fach gut, oder?
Das stimmt schon. Die Vorstellung von Menschen, die im Eis eingeschlossen sind und dann wieder zum Vorschein kommen, die löst offenbar starke Emotionen aus.

Bekommen Sie viele Meldungen von Wanderern, die vermeintliche Sensationen entdeckt haben, sich dann aber als Fehlalarm entpuppen?
Erstaunlich wenig. Im Falle des Schnidejochs hatten wir grosses Glück, weil die Finderin Ursula Leuenberger sich gut mit Papierkunst auskannte. Darum hat sie die Birkenrinde als etwas Aussergewöhnliches erkannt, mitgenommen und an uns übermittelt. Die meisten Laien würden 95 Prozent der Objekte, die wir am Schnidejoch gefunden haben, gar nicht erkennen – dafür sind sie zu klein und unauffällig. Für Wanderer und Bergsteiger gilt im Falle eines Verdachts: Den Fund liegenlassen, mit Schnee oder Firn zudecken und markieren. Aber nicht so auffällig markieren, dass gleich der Nächste herumwühlt. Nur so auffällig wie nötig.

Sind sie privat mal auf etwas Spannendes gestossen?
Man hat natürlich immer die Augen offen. Ein Objekt habe ich aber bisher nicht gefunden. Aber eine Fundstelle, die hochverdächtig ist. Eine kleine Höhle – und Höhlen sind in den Alpen fast immer belegt worden – habe ich auf Skitour entdeckt, die wartet noch auf eine Untersuchung. Ich verrate aber nicht, wo die liegt!

Nochmals zurück zum Klimawandel: Er vollzieht sich nicht so schnell, dass ihr Beruf schon wieder vom Aussterben bedroht ist?
Es gibt noch viele Hochgebirge, die noch nie auf Gletscher- bzw. Eisfunde untersucht worden sind. Und durch das momentan beschleunigte Abschmelzen könnte sich ein Zeitfenster von 10, 20, 30 Jahren öffnen, in dem wir verstärkt Funde machen werden. Aber es gibt ohnehin quasi niemanden weltweit, der sich ausschliesslich mit Gletscherarchäologie beschäftigt. Das ist auch eine Frage der Forschungsfinanzierung, denn die Chancen auf Erfolg liegen bei der Gletscherarchäologie im Promillebereich. Wenn ich vier Jahre durch die Berge renne und nichts finde, dann kann ich ein Kreuz unter meine Karriere machen. Wir können ja nicht so lange vor dem Eis warten, bis etwas auftaucht, das wäre viel zu zeitintensiv.

Die Disziplin wird also auch dann nicht boomen, wenn sich der Klimawandel beschleunigt?
Es wird immer eine Nische bleiben. Der grosse Vorteil ist: Eisfunde sind fast immer etwas tolles, weil sie meistens gut erhalten sind. Wie der Ötzi oder am Schnidejoch, das sind wirklich Superlative. Aber die Zahl der Superlative wird gering sein. Wir werden jedoch mehr Leichen finden, die in den letzten 50 bis 60 Jahren in Gletscher gefallen sind. Allein in der Schweiz werden noch 1500 Personen vermisst. Das ist eine riesige Zahl.

Foto © Urs Messerli / Archäologischer Dienst des Kantons Bern

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