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«Null Risiko ist kein menschliches Bedürfnis»

Thomas Werz, Mittwoch, 01. Dezember 2021

Allein der Gedanke an eine Lawine lässt die meisten Tourengeher erschaudern – für Manuel Genswein gehört sie zum beruflichen Alltag, seine Ausbildungskurse hält er auf der ganzen Welt. Im Kopf ist er schon einen Schritt weiter. Im Gespräch verrät er, wie man mit Spielen besser lernt  – und warum null Risiko am Berg nicht funktioniert.

Hinweis: Dieses Interview wurde 2020 durchgeführt.

Allein der Gedanke an eine Lawine lässt die meisten Tourengeher erschaudern – für Manuel Genswein gehört sie zum beruflichen Alltag, seine Ausbildungskurse hält er auf der ganzen Welt. Im Kopf ist er schon einen Schritt weiter. Im Gespräch verrät er, wie man mit Spielen besser lernt  – und warum null Risiko am Berg nicht funktioniert.

Manuel, normalerweise bist du das gesamte Jahr über auf der Welt im Schnee unterwegs. Ich schätze, auch deine Arbeit hat sich 2020 radikal verändert?
Ja, ich war in den vergangenen 28 Jahren noch nie so lange zu Hause wie in diesem Jahr – mit fast vier Monaten «Schneepause» von der letzten Skitour auf den Piz Tambo am 2. Juni bis zur ersten Skitour hier auf der Lenzerheide am 25. September. Aber ich habe es richtig genossen, die Schweiz und die Schweizer näher kennenzulernen. 

Wie gut funktionieren denn Aus- und Fortbildungen im Bereich Lawinensicherheit digital über Zoom und Skype?
Einen vollen Ersatz gibt es natürlich nicht. Wenn du in 30 Ländern und mit den Leuten dort das gesamte Jahr über zusammenarbeitest, dann ist es ein wichtiger Teil der Arbeit, mit diesem Netzwerk ständig in Kontakt zu bleiben. Somit war der Schritt für Leute, die sehr international ausgerichtet sind, technisch nicht sehr gross – ich musste nicht extra ein Headset kaufen. Aber das praktische Leben sieht völlig anders aus. Wir sitzen jetzt in unseren Heimatländern fest.

Und die praktische LVS-Suche am Rechner funktioniert nicht so richtig.
Ja, das ist richtig. Aber im Bereich der Ausbildung für Ausbilder können viele Dinge aus den Bereichen Methodik und Didaktik über eine Fernlektion vermittelt werden. Ich schalte mich immer wieder bei Kursen und Konferenzen zu, die irgendwo auf der Welt stattfinden. Aber sobald die praktischen Disziplinen dazukommen, gibt es doch Limitationen. Virtuelle Übungen ersetzen keine Feldarbeit.

Typischerweise ist der Berg dein Arbeitsumfeld. Was bedeutet Schnee für dich: Ist es immer noch Spass – oder siehst du heute mehr die Gefahr?
Nein, das Thema Schnee ist für mich immer noch mit sehr positiven Gefühlen verbunden. So wurde Schnee für mich auch zum beruflichen Thema – und ist eine sehr interessante und anspornende professionelle Herausforderung. Will man diese erfolgreich meistern, geht es vor allem darum, der Gefahr mit dem richtigen Verhalten zu begegnen. Im Bereich Skitouren und Freeride geht es um das kollektive und das persönliche Verhalten und auch darum, dass man die Gefahr als solche erkennen und auch akzeptieren kann.


Welche Fähigkeiten müssen Skitourengeher deiner Meinung nach unbedingt besitzen?
Unabhängig vom Wohnort: Man beherrscht den Umgang mit dem Schnee und dem Gelände nicht einfach per se. Das muss man erlernen. Im Gelände geht es darum, klug zu agieren, mit ihm zu spielen und es richtig einzuschätzen – auch im Kartenbild. Bezüglich Risikomanagement wurde in den vergangenen 20 bis 30 Jahren unheimlich viel erreicht. Egal, ob «Stop or Go», «Reduktionsmethode» samt ihrer Derivate oder «Avaluator»: All diese Systeme haben den Vorteil, dass die Teilnehmer auf die ganz essenziellen Variablen sensibilisiert und fokussiert werden. Erst braucht es einen Kurs, man muss die Inhalte verinnerlichen und sie mit erfahrenen Leuten anwenden. Und man muss wachsam bleiben, sich auch auf der Modetour fragen: Passen die Verhältnisse auch heute? Oder gehen wir den Gipfelhang nur, weil wir grundsätzlich immer gehen?

Du bist also ein Ausbilder, der nicht mit dem erhobenen Zeigefinger mahnt?
Grundsätzlich gehöre ich absolut nicht zu der Gruppe, die eine «Zero Vision» vertritt, denn «null Restrisiko» ist eine Illusion. Es entspricht auch nicht den Bedürfnissen des Menschen. Wir sind glücklicherweise keine Roboter, denn das Endziel von «null Risiko» funktioniert nur in einer vollkommen künstlichen Umgebung. Das Wichtigste ist, sicherzustellen, dass die Leute einen informierten Entscheid fällen. Damit sie sich bezüglich der Risikowahrnehmung auch bis in letzter Konsequenz darüber bewusst sind, was das Restrisiko-Level, das sie für sich als okay empfinden, auch dann bedeutet, wenn der Tag kommt, an dem es nicht gut ausgeht.

Wie bildet man diese Risiko-Wahrnehmung aus?
Das ist eine grosse Herausforderung. Psychologen sagen: Das, was ihr erzielen wollt, ist eine Illusion. Wenn das Schmerz-Feedback fehlt, dann wird die Verlockung immer grösser sein. Und der Mensch wird, weil er eben Mensch ist und keine Rechenmaschine, immer wieder bereit sein, Dinge zu tun, die er rein rational nicht tun sollte. Viele versuchen es über einen spielerischen Approach. Zuerst war da das 3x3-Kartenspiel von Werner Munter und ein Spiel von snowsafety.nl, dann hat das Kern-Ausbildungsteam Lawinenprävention im Schneesport in der Schweiz ein Spiel entwickelt. Ganz spannend: In den Pyrenäen hat einer meiner Kollegen einen «Lawinen-Escape-Room» gebaut.

Also spielend das Risiko erlernen?
Ja, das ist psychologisch ein interessanter Ansatz. So trainierst du Entscheidungen von 50 Skitouren in einer zweistündigen Spielrunde. Bergsteiger sind ja ausgesprochen kompetitive Charaktere. Sie wollen unbedingt gewinnen. So erlernen sie spielerisch die richtigen Verhaltensweisen. Und sie verlieren, wenn sie über die Stränge hauen. So lernen sie in einer künstlichen, ungefährlichen, aber doch psychologisch attraktiven Umgebung. Bei jedem Spielzug, in jeder Minute, müssen sie einen Entscheid fällen und erreichen so das Entscheidungsvolumen von 50 Skitouren an einem Abend. Ich arbeite gerade an einem Projekt, das die «Virtual Reality» noch stärker mit einbringt. Du kannst die Teilnehmer mit dieser Brille fast eins zu eins in diese Situationen versetzen. Denn sie sollen die Lernkurve möglichst nicht selbst im Gelände machen.



Was war dein Auslöser, dich so intensiv mit Schnee und Lawinen zu beschäftigen?
Ich startete schon ganz früh als kleines Kind mit meiner Familie mit Skitouren, und ging später zur Jugendorganisation des Alpenvereins. Bei der Armee war ich Lawinenspezialist und schon während der Rekrutenschule Mitte der 90er-Jahre bemerkte ich, dass es in der Lawinenrettung noch relativ viele Suchprobleme und noch sehr viel Optimierungspotenzial gibt. Ich hatte zuvor eine Berufslehre als Elektroniker abgeschlossen, und durch die Elektrotechnik stellte ich fest, dass viele Regeln, die wir angewandt haben, gar nicht den Fakten im elektromagnetischen Feld entsprechen. Die Regeln waren fehlerbehaftet. So begann ich, ein erstes Suchsystem zu entwickeln und publizierte dieses im Magazin des Schweizer Alpen-Clubs. Damals war ich erst 19. Sodann publizierte ich es im Ausland und plötzlich erreichte mich eine Kursanfrage und ich bemerkte während des Kurses: Da gibt es noch weitere zu lösende Knackpunkte. Ganz früh bekam ich den Auftrag, für den Alpen-Club und Jugend und Sport das gesamte Lawinenpräventionsmaterial komplett zu überarbeiten. Diese Arbeit hat mich mit vielen spannenden und sehr erfahrenen Personen aus diesem Fachgebiet in Kontakt gebracht, von welchen ich sehr viel lernen konnte.

Und auf einmal warst du im Schnee-Business und auf der ganzen Welt unterwegs…
Plötzlich war das ein voller Beruf, aber vielleicht nicht gerade das, was dir der Karriere-Berater empfehlen würde. Das eine ergab das andere und es machte natürlich Spass, auf der ganzen Welt aktiv zu sein. Fremdsprachenkenntnisse helfen auf diesem Weg ungemein. In einem mehrsprachigen Land aufzuwachsen ist diesbezüglich sicher ein Vorteil.  So konnte ich sofort in mehreren Ländern in der jeweiligen Landessprache unterrichten. Und: 30 Länder bedeuten auch 30 Mentalitäten, 30 Lehr- und Lernkulturen.

Kurse in 30 Ländern: Wie viel Zeit bleibt dir bei deinen vielen Reisen eigentlich für die ein oder andere private Skitour?
In der Kernsaison im Januar und Februar gibt es knallharte Zeiten, da wollen alle Profis geschult werden. Aber sobald das Programm einige Lücken zulässt, ergeben sich gute Möglichkeiten. Ich unterrichte ja immer Leute, die vor Ort die lokalen Gurus sind. Natürlich erlebe ich dank ihnen nicht die schlechtesten Touren. 

Hast du so auch Themen mitgenommen, wo du dachtest: Spannend, so haben wir das bisher gar nicht angeschaut?
Es ist vor allem das Mindset. Gerade jetzt bei MountainSafety.info und den Arbeitsgruppen mit Leuten aus 24 Nationen bedeutet das: kreatives Potenzial von Leuten, die von 24 verschiedenen Gesellschaften geprägt sind und teils ganz andere Herangehensweisen an Probleme kennen – und somit auch Lösungswege aufzeigen, an die wir gar nie gedacht haben. Oft geht mir ein Licht auf und ich denke: «Klar, warum habe ich das nicht bereits vor zehn Jahren realisiert, das ist ja so viel einfacher!» Internationale Zusammenarbeit hat viele Komplexitäten, ist aber eine grosse Bereicherung.



mountainsafety.info ist dein Baby. Wie bist du darauf gekommen, eine internationale Plattform im Bereich Sicherheit am Berg zu schaffen?
Ich sass jeden Sommer im Büro und habe für verschiedene Projekte Kursinhalte erstellt. Irgendwann bemerkte ich, dass ich für jedes Lawineninstitut Inhalte erstelle, welche diese von einem Grafiker illustrieren und in mehrere Sprachen übersetzen lassen. Und immer wieder hörte ich, dass die Kosten für die Grafik, die Übersetzungen und den Video-Typ sämtliche finanziellen Mittel aufgefressen hätten, schliesslich würde ich meine Inhalte aus purer Passion für den Schnee und die Bergwelt erarbeiten. Dies ist extrem unnachhaltig für uns Autoren und für alle, die ihr Leben lang zu diesem Thema kreativ beitragen. Es erfordert grossen Aufwand, um heute noch weiterzukommen. Und es ist ineffizient, wenn jede Organisation und jedes Land von Beginn weg ihr Lawinenhandbuch selbst erstellt. So kam ich auf die Idee, eine internationale Bild- und Lehrtext-Datenbank zu erstellen. Diese Inhalte sind mittlerweile in 21 Sprachen verfügbar.

Welche Vorteile für die Kameradenrettung hat die weiterentwickelte Hardware?
Vor allem beim LVS wurden massive inhaltliche Fortschritte erzielt, vor allem was die Benutzerfreundlichkeit und die Benutzerfehlertoleranz angeht. Bei der Schaufel und der Sonde nicht. Nur weil eine Schaufel oder eine Sonde heute nicht mehr bricht, ist das kein Fortschritt, sondern die Erfüllung von dem, was man eigentlich schon immer versprochen hatte. Ich arbeite in den Normen-Kommissionen mit. Nehmen wir die Schaufel: Vor 15 Jahren wurde zum ersten Mal das systematische Schaufeln auf breiter Front zum Thema und zum Kursinhalt. Dies hat dazu geführt, dass die Leute sich überhaupt mit ihrer Schaufel auseinandersetzen mussten. Auf einmal wurden die Schaufeln verwendet und weiterentwickelt. Und plötzlich wurden die Qualitäts- und Ergonomie-Unterschiede zum Thema, die Bergmedien griffen dies auf und machten Tests. Das sorgte für Wirbel und die Hersteller wurden etwas unfreiwillig aufgerüttelt, waren dann aber sehr motiviert und haben produktiv mitgearbeitet, um etwas Besseres auf den Markt zu bringen.

Du selbst warst an der Entwicklung diverser Strategien, Tools, aber auch von Hardware beteiligt. Gibt es für dich einen Meilenstein, der das System deutlich verbessert hat?
Beim LVS-Gerät war es sicher die Mehrantennen-Technologie und die Algorithmen für mehrere Verschüttete. Das hat dazu beigetragen, die Benutzerfreundlichkeit und die Fehlertoleranz klar zu steigern. Und dann waren es ganz simple Geschichten, wie das Ausgraben. Ich bin heute noch darüber erstaunt, warum es im Jahr 2006 einen Elektrotechniker brauchte, der das Schaufeln revolutioniert hat. Was die Überlebenschancen angeht, haben wir hiermit den konkretesten Fortschritt erzielt: Jede Minute zählt! Das systematische Schaufeln ist die Kontribution, welche am meisten Leben rettet.

Wenn du selbst auf Skitour bist, ertappst du dich dabei, dass du an einem guten Tag ein grösseres Risiko eingehst?
Ja, natürlich, davor ist man nie gefeit. Es ist nicht so, dass alle, die sich professionell mit dem Thema beschäftigen, so vorbelastet sind, dass sie einen Tag nicht sorgenlos geniessen können. Aber: Wenn du dich so lange damit beschäftigst, dann siehst du alle Aspekte. Heute ist es so, dass jährlich fünf bis sechs meiner ehemaligen Teilnehmer sterben. Alle sind sich bewusst, dass es einen «Risiko-Benefit» gibt, aber wir sind uns genauso bewusst, welche die möglichen Konsequenzen sind. Somit kommt man immer wieder einmal zum Schluss, dass der Berg mit grösster Wahrscheinlichkeit auch noch am nächsten Tag oder im nächsten Winter hier stehen wird.

Ist deine Hauptbotschaft: Verzicht lohnt, Verzicht macht alt?
Nein, ich bin absolut kein Verfechter der «Zero-Risk»-Strategie. Meine Message ist: Stellt sicher, dass ihr einen informierten Entscheid fällt, jeder soll – solange man nicht in einer Führungsposition ist – auch darüber entscheiden können, welches Restrisiko er tragen will. Aber ein jeder sollte sich auch voll darüber bewusst sein, was die potenziellen Konsequenzen sind. Kennen die Leute die Spielregeln und sind sich der Risiken bewusst, ist mein Ziel erreicht.

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