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«Wir trugen 400 Meter Stahlseil auf den Gipfel»

Fabian Reichle, Mittwoch, 22. Juli 2020

Eine Kletterroute mit Bolts einrichten ist das eine, ein Klettersteig mit Stahlseil, Tritten und Stiften das andere. Toni Fullin, Hüttenwart auf der Bergseehütte und ehemaliger Bergführer, kennt sein Metier. Er hat bereits mehrere Via Ferrate gebaut, unter anderem das «Krokodil» am Bergseeschijen. Wie ein Klettersteig entsteht und wie er diese als positive Entwicklung im Alpinismus sieht, erzählt er uns im Interview.

Dein erstes Klettersteig-Projekt war das «Krokodil» in der Nähe der Bergseehütte. Wie kam es zu dieser Idee?

Dahinter steckte ein kommerzieller Gedanke. Mir war die Zugänglichkeit für ein breites Publikum wichtig. Der Klettersteig sollte familientauglich sein und eine Alternative zu den klassischen Mehrseillängen rund um die Bergseehütte bieten, die ich ebenfalls eingerichtet habe.

Ist dein Plan aufgegangen?
Offensichtlich scheint es zu funktionieren, ich sehe bei uns Gäste aus der ganzen Welt. Das hat aber sicherlich auch damit zu tun, weil Hochtouren durch den Klimawandel und das Abschmelzen der Gletscher immer problematischer werden. Darum suchen Menschen – aber auch touristische Regionen, vor allem höhergelegene alpine Gebiete wie das Wallis – nach Alternativen. Klettersteige bieten diese.

Aber kann ein Klettersteig wirklich eine Alternative zum klassischen Klettern sein?
Das kommt auf die Bauart drauf an. Beim «Krokodil» wollte ich einen möglichst natürlichen Klettersteig einrichten. Wenig Eisen, dafür mit viel Arbeit mit dem Fels. Mir ist das ursprüngliche Klettern wichtig – nicht so wie in Frankreich oder Italien, wo Klettersteige oft eine Quasi-Leiter von unten bis oben sind.


Toni Fullin beim Bau eines weiteren Klettersteigs in der Nähe "seiner" Hütte: Dem Schijen Zwärg.


Trotzdem behaupten puristische Bergsteiger oft, dass Klettersteige nicht mehr viel mit Alpinismus zu tun hätten und die Berge verschandeln. Wie stehst du dazu?
Auch ich stand dem Ganzen relativ skeptisch gegenüber. In meiner aktiven Bergsteiger-Zeit ging ich soweit, dass ich teilweise Bohrhaken kompromisslos abgeschlagen habe, weil ich clean klettern wollte. Mittlerweile sehe ich das anders. Ich bin kein Einzelfall, zum Glück ändern Alpinisten ihre Meinungen.

Und wie beurteilst du die ökologische Auswirkung eines Klettersteigs?
Auf einem Klettersteig können Kletterer an einem fixen Pfad geführt werden. Ökologisch ist das sinnvoll. Ich sehe immer wieder, dass links und rechts des Seils Vögel nisten – das ist bei weglosen T5- oder T6-Wanderungen bereits problematischer. Zudem kann ein Klettersteig auch ohne Spuren zu hinterlassen abgebaut werden.

Du warst im Bau von mehreren Klettersteigen involviert. Kann jede und jeder mit dem Einrichten einer Via Ferrata loslegen?
Nein. Unsere Arbeit ist zertifiziert und untersteht Regeln, die eingehalten werden müssen. Heute ist es nicht mehr so, dass man wahllos Material am Fels verbauen kann.

Wie sieht so eine Zertifizierung aus?
Dazu müssen Kurse über das Arbeiten am Seil absolviert werden, deren Inhalte periodisch wieder aufgefrischt werden müssen. Zudem sind geografische Kenntnisse notwendig.

Das heisst, die Klettersteige sind durch diese Zertifizierung sicher?
Wir stecken noch in der Anfangsphase, es gibt noch viele – auch neue – Klettersteige, die den Massstäben nicht gerecht werden. Diejenigen, die in der Literatur aufgeführt sind, sind jedoch sicher. Zumindest gab es in den letzten Jahren keine Unfälle, die auf das Material zurückzuführen waren. Die Ansprüche sind hoch. Das hat aber auch mit der laufenden Sanierung zu tun. So wurde beispielsweise der Diavolo-Klettersteig in der Schöllenen kürzlich totalsaniert.

Wie funktioniert die Wartung und Sanierung eines Klettersteigs?
Dafür gibt es einen Wartungsvertrag. Das heisst, es muss periodisch kontrolliert werden, ob alles in Ordnung ist. Das ist vor allem im Frühling der Fall. Im Mittelgebirge ist das weniger ein Problem. Im Hochgebirge, wo viel Schnee fällt, kann es schon passieren, dass mal ein Anker abbricht.

Ein Anker kann allein durch Schnee abbrechen?
Ja, da können unglaubliche Kräfte herrschen. Wenn im Oktober Regen und nasser Schnee ans Material kommt und gefriert, hängen plötzlich mehrere Tonnen Eis am Stahlseil. Durch das Gewicht wird das Material wortwörtlich zerrissen. Vor etwa zehn Jahren ging so etwa ein Drittel des Klettersteigs in Braunwald kaputt. Es gibt darum auch Routen, in denen über den Winter das Seil stellenweise abmontiert werden muss, weil es dem Wetter zu fest exponiert ist.

Es gibt viel zu beachten beim Bau eines Klettersteigs. Wie bekommt man überhaupt eine Bewilligung für einen solchen?
Dazu müssen bei mehreren Instanzen Baugesuche eingereicht werden – ähnlich wie wenn man eine Hütte oder ein Haus bauen möchte. Das läuft über die Gemeinde und entsprechende Landeigentümer. Hinzu kommen verschiedene Umweltverbände, die ihr OK geben müssen. Dabei kommt es vor allem auf den Tierschutz drauf an: Nistende Vögel in der Wand oder Tiere bei Klettersteig-Einstiegen dürfen nicht gestört werden.


So sieht es auf dem Krokodil aus.


Als die Bewilligungen auf dem Tisch lagen, hast du mit dem Bau des «Krokodils» losgelegt. Wie lange hast du dafür gebraucht?
Zwei Wochen

Nur zwei Wochen? Das ist unglaublich schnell.
Ja, die Offerte eines Bauunternehmens war uns zu teuer, da haben wir zu zweit selbst Hand angelegt. Wir waren wirklich schnell. Es waren aber lange Arbeitstage mit bis zu 15 Stunden am Fels.

Was hätte der Bau gekostet?
Für Arbeitsstunden und Material ungefähr 65'000 Franken.

Gekostet hat es aber trotzdem etwas. Wie hast du den Klettersteig finanziert?
Zu 90 Prozent durch Sponsoring. Zum Beispiel gibt es im Klettersteig eine Sitzbank, die jemand für 500 Franken sponsern konnte. Wieder jemand anderes hat Baumaterial zur Verfügung gestellt.

Läuft das immer so?
Nein. Ich war auch schon an Projekten tätig, wo der Auftrag von Seilbahnunternehmen kam. Da gab es finanzielle Unterstützung des Bundes. Tourismusförderung im eigentlichen Sinne.

Wie lange ist das Seil, das ihr verbaut habt?
Etwa 400 Meter.

Ist das ein durchgehendes Seil?
Es ist in etwa 50 bis 100 Meter lange Stücke unterteilt. Aus Sicherheitsgründen ist es besser, wenn das Seil so verbaut wird, weil es bei der Montage straffer gespannt werden kann. Ausserdem wollten wir aus ökologischen Gründen keinen Helikopter einsetzen, der das Seil auf den Gipfel bringt. Die Seilstücke mussten also so sein, dass sie auf unseren Rücken auf den Gipfel transportiert werden konnten.

Ihr habt insgesamt 400 Meter Stahlseil aus eigener Kraft auf den Gipfel geschleppt?
Genau.

Und wieviel Material war es insgesamt?
Mit allen Tritten, Stiften und so weiter war es ungefähr eine Tonne Stahl.

Wie kommt das Stahlseil an den Fels?
Vor der eigentlichen Montage haben wir die Route mit Signalfarbe markiert und mit normalen Bolts eingerichtet. Danach haben wir das Ganze mit einem Statikseil fixiert. An diesem haben wir uns anschliessend durch die Route gearbeitet und gebohrt. Das Stahlseil kam dann zum Schluss. Am einfachsten geht es, wenn dieses von oben nach unten eingearbeitet wird. Darum haben wir es auch vorab auf den Gipfel gebracht.

Habt ihr gleichzeitig auch die Stifte und Tritte montiert?
Als das Statikseil eingerichtet war, haben wir uns auf kleinere Abschnitte konzentriert, das nötige Material mitgenommen und an der Route deponiert. Einer von uns hat dann jeweils gebohrt, der andere geklebt. Dabei muss sehr seriös gearbeitet werden, denn der Leim ist äusserst temperaturempfindlich. Bei Kälte braucht er lange, bis er hart wird, bei Hitze ist es umgekehrt. Ideal sind Baubedingungen zwischen 10 und 20 Grad.

Als das «Krokodil» fertiggebaut war, wie haben sich die ersten Rückmeldungen angefühlt?
Das waren sehr schöne Momente. Den meisten gefällt die Route sehr. Vor allem auch, weil eben viel mit dem Fels gearbeitet werden muss. Das fällt mir sowieso auf – viele suchen in Klettersteigen wieder vermehrt die klassische Kletterei und nutzen die Stahltritte wenn immer möglich nicht. Eine spannende Entwicklung.


Toni Fullin aus Flüelen ist seit 32 Jahren Hüttenwart auf der Bergseehütte oberhalb Göschenen. Seit 40 Jahren ist er als Bergführer tätig – auch weltweit. Er stand auf 8’000ern und verbucht rund 600 Erstbegehungen. Zusammen mit seinem Sohn, der ebenfalls zertifizierter Felsspezialist und Bergführer ist, hat er sich auf den Bau von Klettersteigen spezialisiert. 2011 hat er die «Krokodil»-Route am Bergseeschijen-Vorbau eingerichtet.



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