Musik in den Bergen boomt – von Pop- (Zermatt) über Jazz- (St. Moritz) bis zu Schlagerfestivals. «Der Berg bebt» nicht nur in Flims, auch in den Flumserbergen, in Sedrun und wo auch immer. Allerdings haben diese Anlässe eigentlich nichts mit den Alpen zu tun, die Berge fungieren hier lediglich als Kulisse. Daneben bestehen aber auch weiterhin traditionelle Älpler- und Sennenfeste, wie die urtümlichen «Stobeten» im Alpstein, welche die ursprüngliche alpine Volksmusik zelebrieren. Aber was ist denn überhaupt «alpine Musik»? Volksmusik, Neue Volksmusik oder Ländler? Und welche Rolle spielen traditionelle alpine Instrumente?
MUSIKFORMEN UND IHRE ABGRENZUNG
Traditionelle, meist nicht-westliche Musikformen und
ihre Kombination mit westlicher Pop-Musik, werden
heute als Weltmusik etikettiert. In der Schweiz und im
deutschsprachigen Alpenraum werden die in den letzten
Jahrzehnten aufgekommenen Strömungen, Volksmusik mit Elementen aus Jazz, Rock, Folk und Hip-Hop zu
verbinden, als Neue Volksmusik eingeordnet. Sie grenzt
sich bewusst von volkstümlicher Musik, dem volkstümlichen
Schlager, ab.
Ambäck machen moderne
Volksmusik ohne Tracht.
Der Ländler, eine ursprünglich aus der ländlichen Tanzmusik des 19. Jahrhunderts hervorgegangene Tanzund Unterhaltungsmusik, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts populär. Und zwar anders, als es der Name vermuten lassen könnte, zuerst in den Städten. «Die damaligen Musikanten traten in Trachten auf, weil sie glaubten, in ihren Sonntagsanzügen in den Städten ärmlich zu wirken», erklärt Volksmusik-Forscher Johannes Rühl. «In der Hochblüte in den 30er- und 40er-Jahren war der Ländler unangefochten die Unterhaltungsmusik Nummer eins. Zum einen, weil sie in der Zeit der Geistigen Landesverteidigung zur Schweizer Identitätsstiftung beitrug, zum andern, weil es während des Zweiten Weltkriegs kaum Konkurrenz aus dem Ausland gab». Mit dem raschen Einzug französischer und amerikanischer Musik nach Öffnung der Grenzen, galt die Ländlermusik zunehmend als rückständig. «Hudigäggeler», wie die Ländlermusik abschätzig genannt wurde, war insbesondere bei der jungen Generation verpönt. Zementiert wurde das konservative Image noch durch Fernseh-Shows wie das Musikantenstadl oder Volksmusiksendungen von Wysel Gyr. Er, «der Ländlerpapst», bestimmte «was gottgefällig sei, und was des Teufels», spitzt es Tonkünstler Christian Zehnder zu. Er weiss, wovon er spricht: Mit seinem Duo «Stimmhorn» verband er Naturtöne, Instrumente, Obertongesang und Jodel zu experimenteller Ethno-Musik, die ihm nationale und internationale Auszeichnungen einbrachte. Ähnlich mischte Christine Lauterburg in den 90ern mit der Fusion von Jodel und Techno die traditionelle Szene gehörig auf. 1993 wurde sie dafür vom Jodlerverband ausgeschlossen.
«Ich hole mir die
Inspiration von den
Alpen – sie bleiben
die Wurzeln meines
Schaffens.»
CHRISTIAN ZEHNDER, NATURTONVIRTUOSE
NEUE MUSIK AUF ALTEN INSTRUMENTEN
Einer der frühesten Schweizer Wegbereiter der Neuen
Volksmusik war der Hackbrettler Töbi Tobler. Zusammen
mit dem Kontrabassisten Ficht Tanner gründete er 1980
die Gruppe «Appenzeller Space Schöttl». Ihrem Namen
alle Ehre machend, führten sie mit ihren Freejazz- und
Hardrock-Improvisationen die traditionelle Appenzeller
Musik in wahrhaft neue Sphären. Landesweite Anerkennung
fand das «Neue Original Appenzeller Streichmusikprojekt
», das urtümliche Appenzeller Musik kreativ
weiterentwickelte. Hier wirkte auch Noldi Alder massgeblich
mit. Er, der zur vierten Generation der Appenzeller
Volksmusik-Dynastie Alder gehört, bezeichnet sich
selbst als «Erneuerer der Schweizer Volksmusik».
Junge Musiker wie Christoph Pfändler führen diese Erneuerung fort. Pfändler «entrockt» dem Hackbrett bei Auftritten seiner «Metal Kapelle» alles andere als traditionelle Weisen. Aber auch so altmodische Instrumente wie die Handorgel haben ihre Neuerer gefunden, etwa mit dem Schwyzer Markus Flückiger oder dem Andermatter Fränggi Gehrig, die in ganz unterschiedlichen Zusammensetzungen neue Akkordeon- und Schwyzerörgeli- Töne anschlagen. Etwas seltener werden dem Alphorn ungewohnte Klänge entlockt. Allerdings war vor 40 Jahren das «Pepe Lienhard Sextett» dank Mostafa Kafa'i Azimis verblüffendem Alphorn im Eurovisions- Beitrag «Swiss Lady» wochenlang die Nummer eins der Hitparade. Ein Jahrzehnt später sorgte das Alphorn durch Hans Kennels Formationen «Alpine Jazz Herd» und «Alpine Experience» nochmals für Aufsehen, wenn auch nicht mit einem Pop-Song, sondern mit Ethno-Jazz. Kennel war es, der den gegenwärtig weltweit virtuosesten Alphornspieler überhaupt erst zu diesem Instrument brachte: Arkady Shilkloper aus Moskau, der von Jazz bis Klassik alle Genres auf dem langen Horn beherrscht. Shilkloper kann nicht ganz verstehen, warum es nicht mehr Alphornspieler ausserhalb der Volksmusik gibt: «Jeder gute Waldhornspieler brächte jedenfalls die Voraussetzungen mit.»
BOOM IN BAYERN UND ÖSTERREICH
Mehr Furore macht die Neue Volksmusik aber in unseren
Nachbarländern, wo sie wesentlich radikaler
auftritt: In Österreich mit Hubert von Goisern und
Herbert Pixner, «Attwenger», «Global Kryner» und dem
«Holstuonarmusigbigbandclub»; in Bayern durch den
«Bairisch Diatonischen Jodelwahnsinn» oder «La Brass
Banda». Blasmusik ist wieder hip, vor allem bei den
Nachbarn in Österreich und Süddeutschland , wo Brass
in allen möglichen Kombinationen brummt wie noch
nie: Die Wiener Kultkombo «Mnozil Brass» füllt weltweit
die renommiertesten Säle, und «Da Blechhauf’n» rockt sogar Jazzfestivals. Mit der bayerischen «Brass Wiesn»
und dem österreichischen «Woodstock der Blasmusik»
sind Blechbläser-Festivals entstanden, die Zehntausende
Fans anlocken.
«Die Volksmusik ist
vom Fuss in den Kopf
hinaufgewandert, und
wir bringen sie nicht
mehr hinunter.»
NOLDI ALDER, VOLKSMUSIKERNEUERER
Was die Musik der Berge betrifft, hat die Schweiz dafür ein eigenes, ganz einzigartiges Event: Die «Alpentöne» in Altdorf. Das Festival gilt als wichtigstes Treffen für Neue Volksmusik im Alpenraum, auch weil es sich offiziell keinem Musikstil verpflichtet. Egal, ob neue Musik, Klassik, Jazz, Folk oder Volksmusik oder eine Mischung daraus, einzig der Bezug zu den Alpen ist wichtig. Zumal der Ort nicht willkürlich gewählt ist: Geprägt durch den Handel, ist Uri seit jeher ein Kanton, in dem Menschen unterschiedlicher Nationen und Kulturen zusammentreffen. Und sich wohl gerade deshalb solch ein lebendiger Kulturraum entwickelt hat. Musiker aus dem gesamten Alpenbogen, von den Alpes Maritimes bis nach Slowenien, interpretieren gemeinsam alpine Musik: neu komponiert, experimentell und improvisiert, teils auch eigenwillig – und gestalten so die Musik der Alpen beständig weiter.
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