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Im Silberland: Skitouren in der Silvretta

Caroline Fink, Mittwoch, 25. Januar 2023

Kinderbücher, Pioniere und Sonnencrème – alles gehört irgendwie zur Silvretta. Allem voran bietet dieses Grenzgebiet indes Skitouren vom Feinsten. Tag für Tag garantieren Couloirs und Grate, Gletscher und Hütten alpines Flair am östlichsten Zipfel der Schweiz.

Alles wirkt wie im Kleinformat. Das Postauto ist kaum grösser als ein VW Bus, das Dorf besteht aus einer Handvoll Häusern, manche davon mit Steinböcken und Sonnen bunt bemalt wie in einem Kinderbuch. Es ist Mittag, als wir auf dem gepflasterten Dorfplatz ankommen. Die Frühlingssonne brennt vom Himmel, dass es von den Dächern und Mauern rinnt. Wir schultern die Ski und gehen durch jenes Engadiner Dorf, das tatsächlich ins Reich der Kinderbücher gehört, lebte hier doch der Bub «Schellenursli» laut Erzählung im gleichnamigen Buch. Ein Buch, dank dessen viele von uns wissen, dass man in Teilen Graubündens am 1. März den «Chalandamarz» feiert und mit Schellen, Treicheln und Peitschen den Winter vertreibt. An anderen Tagen geht es hier ruhiger zu: Guarda zählt seit 2021 zu den wenigen «Bergsteigerdörfern» der Alpen, einer Initiative mehrerer Alpenvereine, um sanften Tourismus zu sichern und zu fördern.

In der Geschichte stapfte «Schellenursli» durch knietiefen Schnee hoch zur Alp, um dort eine richtige Kuhglocke zu holen, nachdem andere Kinder im Dorf ihn wegen seines Glöckchens gehänselt hatten. Als wir am Dorfrand von Guarda indes die Skibindungen zuschnappen lassen und die Rucksäcke schultern, würden wir gern nur eine kleine Schelle tragen. Stattdessen wiegt unser Gepäck schwer wie Treicheln, werden wir doch eine ganze Woche lang unterwegs sein im Gebirge. Oder genauer: in der Silvretta. Jenem Gebiet der zentralen Ostalpen, dessen Gipfel im Grenzgebiet von Graubünden, Vorarlberg und Tirol aufragen. Wild und steil, bis zu 3400 Meter hoch und durchzogen von Tälern, Pässen und vergletscherten Weiten.

Kein Wunder, galten diese Bergmassive lange Zeit als unwirtlich. Als vor 260 Jahren die erste Enzyklopädie der Schweizer Alpen erschien, erwähnte Autor und Naturforscher Gottlieb Sigmund Gruner (1717–1778) die «Selvretta» nur am Rande. «Denn neben den Bergstrassen sind diese Eisgegenden meistens unzugänglich, und mithin unbekannt», schrieb er entschuldigend. Dennoch wagte er es, das Gebiet – «von Schuls gerade von Morgen gegen Abend bis an den Rhein» – mit zwei kundigen Einheimischen zu durchqueren. Allerdings, so hielt er fest, «auf gängigen Pfaden bleiben und nicht alpinistisch».

Auch wir steigen zu Beginn einer Alpstrasse entlang auf. Erst durch Lärchenwald, dann den Hängen des Val Tuoi entlang. Dabei ist uns, als stiegen wir ins Innere des Gebirges: Immer höher ragen beidseits des Tals die Gipfel auf und immer tiefer dringen wir in deren frostige Schatten ein, bis wir knapp zwei Stunden später die Tuoi-Hütte erreichen. Eine Bruchsteinhütte, die im lokalen Romanisch Chamonna Tuoi heisst und an deren Fassade blau-weisse Fensterläden leuchten, auch diese wie aus einem Kinderbuch. Dennoch übersehen wir die Chamonna fast, steht sie doch wortwörtlich im Schatten des Wahrzeichens der Silvretta: Hinter ihr, am Talende des Val Tuoi, thront der Piz Buin – so wuchtig und wild, dass es auf den ersten Blick unmöglich scheint, auf seinen Felsgipfel zu steigen.

Wenig später sitzen wir in der Hüttenstube, die an Zeiten erinnert, als unsere Eltern und Grosseltern dieselben Touren unternahmen wie wir heute. Und wie sie damals, wärmen wir die Hände an Teetassen und lauschen dem Feuer im Ofen, das den Raum mit Wärme und Geborgenheit erfüllt. «Welch ein Glück», denke ich mir, «hier drinnen zu sitzen, während die Kälte um die Hütte streicht.» Anders als der werte Herr Gruner schlafen und rasten Besucher der Silvretta seit Jahrzehnten in knapp einem Dutzend Hütten – vier davon auf Schweizer Seite.

 

Zwischen Radler und Panaché

Dennoch wirkt das Gebiet für Schweizer Bergsteigende auch heute noch nah und fern zugleich. Vielleicht, weil die Silvretta teils im Ausland liegt. Dort, wo Hüttentelefone eine andere Landesvorwahl haben und Panaché auf einmal Radler heisst. Ob sie überhaupt zur Schweiz gehöre, mögen sich manche hie und da fragen. Kam doch auch die 1966 lancierte Skitourenbindung mit dem geografisch sonderbaren Namen «Silvretta Saas Fee» aus Deutschland. Und bei der Sonnencrème «Piz Buin Mountain» fragt man sich immer wieder mal, ob diese ein Schweizer oder ein österreichisches Produkt sei. Anmerkung nebenbei: In den 1940er-Jahren von einem Österreicher erfunden, ist «Piz Buin» jetzt US-amerikanisch.

Auch für mich hatte die Silvretta lange etwas Entrücktes. Jahrelang stand sie auf meiner Wunschliste, bis ich nun endlich – am Morgen nach der Ankunft – mit Kollegen und Kolleginnen vor die Tuoi-Hütte trete. Mit klammen Fingern die Ski anfelle und wenig später einen ersten Hang hochsteige. Den Piz Buin im Rücken, ziehen wir ostwärts durch Mulden und über Kuppen, bis wir irgendwann, fast unbemerkt, über die Landesgrenze gleiten. Wie immer staunend darob, dass sich hüben wie drüben nichts ändert: Eine Gletscherfläche breitet sich vor uns aus, Felsgipfel ragen aus ihr auf und im Licht der Morgensonne sehen wir andere Skitourer von Österreich her aufsteigen.

Einzig die Flurnamen erinnern ans nahe Ausland: Über den Jamtalferner gehen wir nun, vor uns der Vorder Jamspitz. Ein Felsgipfel, auf den wir fast als Einzige steigen werden, derweil eine Ameisenstrasse von Skitourern auf den Hinter Jamspitz fellt. Anders als sie, deponieren wir bald die Ski, stapfen mit Steigeisen und Pickel ein Couloir hoch, klettern über ein Grätchen und stehen wenig später auf der Spitze. Über uns ein Himmel, so blau wie leergefegt, und rund um uns ein Gipfelmeer, das sich bis zum Horizont ausbreitet. Es müssen fast alle der rund 300 Gipfel der Silvretta sein und noch viele mehr. Durchzogen von Gletschern und Firn, was uns ahnen lässt, warum man in Vorarlberg und Tirol von der «blauen Silvretta» spricht. Selbst wenn es nicht mehr die «grössten Eisthäler» sind, von denen Gruner berichtete: Die Silvretta macht ihrem Namen bis heute alle Ehre. Zumindest im Winterhalbjahr, wenn der Schnee wie Silber und Sternenstaub auf ihr liegt.

Vier Tage lang fellen wir von der Chamonna Tuoi aus durch dieses Silberland. Steigen frühmorgens mit schnarrenden Harscheisen über Hänge auf, stapfen Flanken empor, kraxeln durch Kamine und klettern über Grate. Piz Fliana, Dreiländerspitze, Piz Buin, Silvrettahorn – sie alle bieten Frühlingsskitouren par excellence, alpines Flair inklusive. Und wann immer wir auf einem Gipfel stehen, blicken wir um uns. «Schau, der Ortler!», sagt dann jemand. «Und dort drüben Palü und Bernina!» Und jene, die sich in den Ostalpen auskennen, deuten in die Ferne und benennen die Rote Wand und die Weisskugel. «Und das dort?», frage ich einmal. «Das Hasenöhrl!» Wir lachen und merken erst später: Das war kein Scherz – der Kollege hatte recht. Das 3257 Meter hohe Hasenöhrl, auf Italienisch L'Orecchia di Lepre, ragt direkt über dem Südtiroler Dorf St. Nikolaus auf.

 

Braungebrannt im Silberland

Dann, am Nachmittag des vierten Tages, tun wir es Gottlieb Sigmund Gruner gleich und machen uns auf nach Westen. «Man muss aber vier Stunden lang über beständigen Schnee und Eis gehen», schrieb er damals. Und genau so geht es auch uns, als wir die Tourenski über weite Gletscherflächen schleifen. Erst jene der La Cudera hoch, dann über die breite Senke des Silvrettapasses. «Diese Reise ist auch gefährlich», warnte Gruner, denn «oft unergründliche, tiefe und mit Schnee bedeckte Spälte, die man also nicht vorsehen kann», säumten den Weg. Weshalb er und seine Führer lange Stangen unter die Arme klemmten und sich ein Seil um die Leiber banden. Wir begnügen uns im Aufstieg zum Pass mit Klettergurt und Seil und schwingen dann – Tourenski sei Dank! – über den immer noch mächtigen Silvrettagletscher talwärts.

Anders als die Pioniere von damals, gehen wir indes nicht weiter bis zum Rhein. Stattdessen wechseln wir in der Silvrettahütte die Skitourenschuhe gegen Crocs, setzen uns auf die Sonnenterrasse und bestellen Schorle und Panaché. Oder waren es Radler und Almdudler? Auch in diesem Winkel der Silvretta fliessen Länder und Sprachen ineinander. Und so werden wir in den nächsten Tagen mal auf die Schneeglocke steigen, mal aufs Verstanclahorn. Um dann, nach einer Woche auf Tourenski, ins Sardasca abzufahren und wenig später den Prättigauer Weiler Monbiel zu erreichen. Wie es sich gehört: mit müden Beinen, leichten Rucksäcken und, am Rande bemerkt, trotz «Piz Buin Mountain» braun gebrannt.  

 

Skitouren in der Silvretta

Gebiet
Die vergletscherte Silvretta gehört zu den zentralen Ostalpen und erstreckt sich über das Grenzgebiet Graubündens, Vorarlbergs und Tirols. Höchster Gipfel ist der Piz Linard (3410 m), am bekanntesten sind Piz Buin (3312 m), Silvrettahorn (3244 m) und Gross Litzner (3109 m).

Skitouren
Das Gebiet bietet zig Skitourenberge wie etwa: Piz Buin (ZS-), Piz Fliana (S-), Hinter Jamspitz (WS-), Vorder Jamspitz (ZS), Dreiländerspitze (ZS-), Silvrettahorn (ZS). Die Schwierigkeitsgrade beziehen sich auf den Aufsteig bis zum Skidepot; oft sind für den Gipfelaufstieg alpintechnische Kenntnisse und Ausrüstung nötig. Infos dazu in der Literatur (siehe unten). 

Übernachten
Im Text erwähnt sind:

Weitere Hütten im Gebiet sind:

Anreise/Rückreise
Im Text beschrieben: Mit dem Zug nach Guarda und weiter per Postauto nach «Guarda, cumün»; zurück ab «Klosters, Monbiel» per Bus nach Klosters und per Zug zurück nach Landquart.

Karte

Literatur

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