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Tollkühn und hartgesotten: Die Bergvagabunden der 20er- und 30er-Jahre

Marco Peter, Mittwoch, 19. Oktober 2022

Die 1920er- und 1930er-Jahre war die Zeit der Münchner Bergvagabunden. Es waren blutjunge, tollkühne und hart gesottene Bergsteiger, welche alpinistische Höchstleistungen vollbrachten. Sie fuhren mit den Rädern von München in die Alpen, schliefen in Heuspeichern oder unterm freien Himmel, kletterten im vertikalen Felsen oder stiegen durch brusthohen Schnee. Geld hatten sie keines, Zeit hatten sie reichlich. Ob die Vagabunden es wollten oder nicht, ein ganz bestimmter Kamerad war immer Teil der eigenen Seilschaft: der Tod.

Dieser Artikel zeigt das faszinierende Leben der Bergvagabunden anhand von 5 Eigenschaften auf. Jeder der genannten Punkte ist mit einem oder mehreren Beispielen von Bergvagabunden untermalt: Otto Eidenschink, Hans Ertl, Anderl Heckmair, Toni Kurz und Andreas Hinterstoisser.


  1. Sie waren jung, wild und liebten die Berge über alles
  2. Sie waren unglaublich fitte und talentierte Alpinisten
  3. Sie hatten keine Arbeit, kein Geld, dafür viel Zeit
  4. Sie machten mangelndes Material mit purer Härte wett
  5. Sie kletterten immer mit dem Tod in der Seilschaft

 

Erste Eigenschaft: Sie waren jung, wild und liebten die Berge über alles

Die Bergvagabunden zeichnete aus, dass sie in ihren «Bergflegel-Jahren» zwischen 20 und 30 Jahre jung waren und scheinbar keine Grenzen und keine Ängste kannten. Otto Eidenschink kletterte mit 20 Jahren zum allerersten Mal am vertikalen Felsen – und dies gleich im 4. Schwierigkeitsgrad, in Mehrseillängen und in Wechselführung.


Im Jahre 1925 brachen der damals 17-jährige Hans Ertl und sein Bruder auf eigene Faust ins Zillertal auf. Sie konnten dem Ruf der 3000er nicht länger widerstehen. Im Rucksack die Zeitschriften des bayrischen Alpenvereins und eine Karte der Zillertaler Alpen. Sie waren damals bei einem Onkel einquartiert und hinterliessen diesem eine Nachricht: «Forschet nicht nach uns. In 14 Tagen sind wir zurück. Habt keine Angst!»


Mit stolzer Brust hielten sie in der Alphütte unter den kritischen Blicken des Hüttenwartes Einzug. Sie gönnten sich am Abend ein Viertel Terlaner Wein, fühlten sich wie Helden und als sie jemand fragte, ob sie unterwegs zur Alpeiner Scharte seien, bejahten sie dies mit aller Selbstverständlichkeit, ohne überhaupt eine Idee zu haben, wo diese ist. Zehn Tage lang wanderten Sie zwischen Gipfeln und Hütten umher und kehrten unversehrt wieder heim.


Ertl und seinen Bergvagabunden-Freunden brannte ein Feuer im Herz: «Wir waren in diesen Jahren so an die Berge hingegeben, an sie verloren, dass wir – fast wie balzende Auerhähne – für nicht anderes Ohr und Blick und Sinn hatten als für diese geliebte Umwelt, der wir uns mit Leib und Seele verschrieben hatten»


«Glücklich wieder in Grindelwald zurück. Der erste erfolgreiche Rückzug nahm der Nordwand den Nimbus der ‘Mordwand’. V.l.n.r.: Matthias Rebitsch, Ludwig Vörg, Otto Eidenschink, Ernst Möller.». Quelle: Otto Eidenschink, Steil und Steinig, 1999, S. 75

 

Zweite Eigenschaft: Sie waren unglaublich fitte und talentierte Alpinisten

Diese Passion befähigte die Bergvagabunden zu Leistungen, die uns heute übermenschlich erscheinen. Es beginnt damit, dass die Jungs mit dem Rad in die Berge fuhren. Man stelle sich das vor: Von München bis zu den Voralpen beim Tegernsee sind es 4 Stunden pro Weg, bis zum Karwendelgebirge in Österreich 6 oder 7 Stunden. Auch ins Berner Oberland und ins Wallis fuhren die jungen Bergsteiger mit dem Rad. Am Rücken ein Rucksack, der 40 bis 45 Kilogramm wog. Bei Wintertouren hatten sie dazu noch ihre «Brettl» (Skier) mit dabei! Am Ziel angekommen, stellten sie ihre «Radl» bei einem Gasthaus unter und brachen zu ihren Bergtouren auf, bei welchen Sie die schwierigsten Wände durchstiegen und tagelang in der Höhe hausten.


Bergvagabunden unterwegs auf den Fahrrädern, mit Rucksack und Skiern. Ort, Jahr und Personen sind nicht bekannt. Quelle: Hans Ertl, Bergvagabunden, 1952, S. 33 


Ein gutes Beispiel für solche Leistungen liefet Anderl Heckmair, der im Jahre 1935, er war damals 29, die Nordwand der Grossen Zinne in den Dolomiten in 5.5 Stunden durchstieg. Das sind 550 vertikale Meter, mit teils überhängender Felskletterei im 6. und 7. Schwierigkeitsgrad. 5.5 Stunden entspricht ungefähr der Zeit, welche die heutige Sportkletterer für die Route brauchen – rund 90 Jahre später!


Heckmair war in jener Zeit gefrustet, weil andere Bergsteiger die Nordwand der Grand Jorasses vor ihm erstdurchstiegen hatten. «Gib’s auf Anderl », meinte ein Freund zu ihm, «du bist auch schon bald dreissig und gehörst zum alten Eisen». Das nagte arg am Bergsteigerstolz Heckmairs. An der Nordwand der Grossen Zinne komprimierte sich die Enttäuschung in purem Auftrieb. «Ich wollte mir beweisen, dass ich noch nicht zum alten Eisen gehöre», schrieb Heckmair. Ohne es zu beabsichtigen, setzte er mit seinem Kletterkumpanen einen neuen Zeitrekord. 1938 wurde er weltberühmt mit der Erstdurchsteigung der Eiger Nordwand – dem damals letzten grossen Problem der Alpen

 

Dritte Eigenschaft: Sie hatten keine Arbeit, kein Geld, dafür viel Zeit

Viele der jungen Münchner Bergvagabunden gehörten der Arbeiterschicht an und waren oft erwerbslos. Der Hunger war ihr steter Begleiter. «Wenn es aber irgendwie ging, hungerten sie lieber in den Bergen als in ihrem meist unerfreulichen Zuhause in der Stadt», schrieb Hans Ertl. Geschlafen wurde in «Heustadeln» oder in Zelten, gegessen wurde Wildgemüse, Beeren oder Pilze, über dem Feuer gekocht mit Mehl, Gries, Polenta oder Reis, wenn es das Budget erlaubte. Ab und zu gabs in einer Berghütte eine heisse Suppe mit Brot aufs Haus.

 

«Unter Franz Fischers Obhut fühlte sich jeder wohl und am Stammtisch der Oberreintalhütte gab es trotz der manchmal harten Zeiten immer einen Grund zum Lachen.» Quelle: Otto Eidenschink, Steil und Steinig, 1999, S. 127

 

Otto Eidenschink, der in seiner Kindheit stehlen musste, um was essen zu können, lebte über zwei Jahre hinweg von 9.80 Reichsmark pro Woche. 5 Davon gab er zu Hause als Miete ab, mit dem Rest musste er durchkommen. Da blieb nichts, aber auch gar nichts übrig – weder für Essen noch für Material. Das war auch dem Wart der Dresdner Hütte nicht entgangen, als Eidenschink im Sommer 1932 mit geliehenen Bergschuhen dort eintrat. «Haste kein Geld, dir was zu kaufen?», fragte der Wart. Eidenschink verneinte. Ob er Hunger habe, fragte der Hüttenwart. Eidenschink antwortete: «Ja, an grausigen!». Darauf hin offerierte ihm der Wart eine heisse Suppe mit Brot und ein Bett für die Nacht.


Eidenschink und auch Heckmair verbrachten Tage und Wochen am Stück in den Bergen – Arbeit hatten sie ja keine. Ein besonders eindrückliches Beispiel der damals anders tickenden Uhr lieferte Heckmair, welcher beim «Skibummel» spontan auf einen Kollegen in einer Berghütte stiess und kurzerhand ein Vierteljahr bei ihm blieb.

 

Vierte Eigenschaft: Sie machten mangelndes Material mit purer Härte wett

Wenn doch mal etwas Geld vorhanden war, wurde dieses für Verpflegung eingesetzt oder für die Bahn gebraucht, um dann doch nicht den ganzen Weg mit dem Rad zurücklegen zu müssen. Für Material blieb kaum was übrig. An Schlosserei (Kletterhammer, Haken und Karabiner) besass man nur das Nötigste und vieles wurde untereinander ausgeliehen.


Otto Eidenschink führte erste Winterbegehungen durch, bei welchen ihm der Schnee nach eigener Beschreibung bis zur Brust reichte, ohne Handschuhe! Er hatte schlicht kein Geld für Handschuhe und härtete über viele Winter immer mehr gegen die Kälte ab. Übernachtet wurde in «Heustadeln» oder unter freiem Himmel. Biwakiert wurde «ohne jegliche Ausrüstung», was faktisch einem schlichten Ausharren der Nacht gleichkommt. Später dann hatte er sich einen Schlafsack aus einer alten Wolldecke genäht. Auch Helme trug man damals keine, was mehr als einmal zu blutigen Köpfen führte (mehr dazu unter Punkt 5).


Kartenmaterial und Topos? Fehlanzeige. «Damals verliess ich mich auf allen Touren ausschliesslich auf meinen Orientierungssinn, da ich weder Karten noch Bussole (Kompass) besass», so Eidenschink.

 

Unbekannte Bergvagabunden, ausgerüstet mit schweren Rucksäcken, Eispickeln und sogar Steigeisen. Originale Bildunterschrift: «Aufstieg zur Hütte (Bernina)». Quelle: Hans Ertl, Bergvagabunden, 19852, S. 144

 

Fünfte Eigenschaft: Sie kletterten immer mit dem Tod in der Seilschaft

Das Vorpreschen in bis damals unberührte Sphären, das mangelnde Material, das Learning by Doing und die Furchtlosigkeit forderten ihren Tribut: Der Tod war bei jeder Bergfahrt ebenfalls Teil der Seilschaft.


Beispiele dafür gibt es aus der damaligen Zeit zuhauf. Begonnen mit dem 20-jährigen Hans Ertl und zwei seiner Kameraden, welche im Zillertal von einer Lawine mitgerissen wurden und nur mit viel Glück überlebten. Oder ihm schlug ein fallender Stein ein (nicht tödliches) Loch in den Kopf – Kletterhelme gab es damals noch nicht. Später beobachteten Sie einen «Alleingeher», welcher rückwärts aus der Wand in den Tod fiel. Noch tagelang verfolgte sie das Geräusch seines Aufschlagens.


Die unerträglichste Todesgeschichte lieferte die Viererseilschaft um Toni Kurz und Andreas Hinterstoisser, welche im Jahre 1936 von einem Wetterumbruch an der Eiger Nordwand festgehalten wurden. Der Versuch der Erstdurchsteigung scheiterte. Über Tage hinweg kämpfen die Alpinisten verzweifelt ums Überleben. Das Drama gipfelte darin, dass die damals 22- bis 28-Jährigen von einer Lawine über eine Felskante gerissen wurden. Ausgenommen von Toni Kurz waren alle sofort tot – Kurz baumelte hilflos über dem Abgrund.


Toni Kurz baumelt leblos am Seil in unmittelbarer Nähe zum Rettungsteam. Quelle: Reddit/HistoryPorn


Trotz Erschöpfung und Erfrierungen schaffte es Kurz, sich über die nächsten 1.5 Tage hinweg bis nur gerade 3 Meter an die Retter heranzuarbeiten. Jedoch blockierte ihn ein Knoten im Seil, der nicht durch den Karabiner passte. Mit den zermürbenden Worten «I ka nimmer» gab Kurz auf und starb am Seil an Erschöpfung.

 

Quellenverzeichnis:

  • «Steil und steinig – ein nicht immer leichtes Bergsteigerleben» Eidenschink, Otto. 1999
  • «Bergvagabunden» Ertl, Hans. 1952
  • Sammelband «Wir und die Berge» Eidenschink, Otto, Schmitt, Fritz, 1948
  • «Eine kleine Geschichte des Bergsteigens», Roeper, Malte, 2021
  • «Tatort Matterhorn», Dokumentarfilm von SRF zur Erstdurchsteigung der Matterhorn Nordwand, 2021
  • «Drama in der Eiger-Nordwand», Dokumentarfilm von Joe Simpson, 2008