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Wegweiser Gross Schärhorn - Ein specieller Berg

Caroline Fink, Mittwoch, 21. Juni 2023

Das Gross Schärhorn in den südwestlichen Glarner Alpen steht oft im Schatten von Clariden und Tödi. Doch wer sich für diesen Gipfel entscheidet, erlebt eine nostalgische Hütte, eine arktisch anmutende Gletscherwelt, ein Stück Alpingeschichte und – die eine oder andere Überraschung.

Es rumpelt und der Motor des Kleinbusses heult immer wieder auf. Wir fahren über eine Forststrasse durch den Wald ins hinterste Glarnerland bis an den Fuss des Tödi. Knapp sechs Kilometer Weg sparen wir mit der Fahrt. Was uns gelegen kommt, ist es bis zum Tagesziel doch noch weit genug: Die Planurahütte liegt auf einem Felssporn hoch über dem Hüfifirn auf 2947 Metern Höhe. Gut fünf Stunden dauert der Zustieg von der Alp Hinter Sand, wo wir aus dem Alpentaxi steigen. 

Tags darauf werden uns derweil nicht allzu viele Höhenmeter vom Gipfelziel trennen: dem 3296 Meter hohen Gross Schärhorn. Einem Berg, der ein wenig im Schatten seines Nachbarn, des Clariden, steht. Zu Unrecht: Ragt das Schärhorn doch genauso wuchtig aus einer Gletscherwelt auf, die zu den wildesten Winkeln der Glarner Alpen gehört. Und ebenso wie an seinen bekannteren Nachbarn schrieben Pioniere auch an ihm Alpingeschichte: Im Jahr 1863 gehörte das Scheerhorn zum ersten «officiellen Excursionsgebiet» des 1863 gegründeten Schweizer Alpen-Clubs SAC. 

Weder Alpentaxi noch Planurahütte existierten damals. Dafür eine Reihe entschlossener Naturforscher, Chemiker, Schriftsteller, Ratsherren mit alpinistischen Interessen. Am 9. August 1863 trafen sie sich im Saal des damaligen Kurhauses Bad Stachelberg im Glarnerland, um ihre Excursionen zu planen – welche Messungen und Skizzen sie machen, welche Gipfel sie im Namen des jungen SAC erklimmen wollten. Doch es harzte bei der Zuteilung der Gipfel, wie der erste Zentralpräsident des Clubs, Rudolf Theodor Simler, im ersten Jahrbuch des SAC berichtet. «Ich ersuche die Herren Commilitonen, sich gefälligst für die Bereisung der einzelnen Gruppen zu melden», hält er fest. «Alles meldet sich für den Tödi.» Er enerviert sich. «Aber, meine Herren», habe er in die Runde gerufen, «der Tödi ist schon x Mal erstiegen. Entschliessen Sie sich für etwas Specielles!» Sein Aufruf fand Gehör. Die Detachements zogen bald aus in Richtung Bifertenstock, Selbsanft, Clariden, Schärhorn und – manche beharrten darauf – zum Tödi. 

Im Horst des Hüfifirns 

Letzteren lassen wir im Hüttenzustieg links liegen und steigen stattdessen Schritt für Schritt der Planurahütte entgegen. Erst durch Gestrüpp und Sträucher, in denen die feuchte Wärme des Frühsommers hängt, dann über die Hochebene von Ober Sand, deren Alphütten wirken, als lägen sie in einem kleinen Paradies: die Mäander des Oberstafelbachs plätschern durch Wiesen, derweil sich rund um die Alp Felswände auftürmen. Allzu gern würden wir hier ins Gras legen, doch der Weg ist noch weit, und so durchqueren wir die Ebene und steigen an ihrem hinteren Ende weiter auf. Bald durch Geröll, immer steiler bergan, bis wir Felsstufen erreichen, durch die wir dank Trittbügeln und Ketten mühelos kraxeln. Dann, erst ganz am Schluss des Aufstiegs, entdecken wir sie: Wie ein Horst schmiegt sich die Planurahütte an einen Felskopf, während sich unter ihr – eisig, arktisch, still – die Gletscherfläche des Hüfifirns ausbreitet. Ein wenig in der Zeit zurückversetzt fühlen wir uns, als wir wenig später in die Hütte eintreten. Über steile Treppen steigen wir in die Schlafschläge; in der Holzstube rücken wir an den Tischen zusammen wie Bergsteiger auf alten Fotos. Wir, das sind übrigens sieben Frauen und ein Mann, die selbst in historischer Mission unterwegs sind: Als letzte Sektion im heutigen SAC gehörte die unsere – der SAC Baldern – einst zum Schweizerischen Frauen-Alpenclub SFAC. Und zu Ehren der Damen von damals entschieden wir uns zum 100-jährigen Jubiläum der Sektion, auf dieselben Gipfel zu steigen wie unsere Gründerinnen. Unter anderem: aufs Grosse Schärhorn. 

So passt die Planurahütte bestens zum Plan. Die dampfende Suppenschüssel auf dem Holztisch, das Geschirr mit der nostalgischen SAC-Inschrift, die knarrenden Böden der Hütte. Ja selbst das Wetter stimmt: Damals wie heute ist es kalt und sonnig. Was mich besonders freut, ist es doch mein zweiter Versuch am Gross Schärhorn. Ein Jahr zuvor waren eine Freundin und ich per Tourenski am Fuss des Berges angelangt, als der Föhn durch die Chammlilücke fegte, dass wir beim Abfellen auf Ski und Rucksack knieten, um sie festzuhalten. Die Kapuzen hochgeschlagen, kurvten wir wenig später wieder nordwärts hinab Richtung Klausenpass. 

Ein kleiner Trost: Auch die Pioniere von 1863 erreichten Clariden und Schärhorn erst im zweiten Anlauf. Am ersten Tag im Excursionsgebiet blieben laut Simler die einen auf dem Claridengletscher «tüchtig im Nebel stecken». Die anderen scheiterten oberhalb des Klausenpasses «an einer Eiswand und vielleicht dem Mangel an fester Entschlossenheit». In einem zweiten Versuch fanden Eugène Rambert von der Sektion Diablerets und zwei Glarner die Spuren ihrer Kollegen auf dem Claridenfirn. Und fast wäre es ihm gelungen, auf das Gross Schärhorn zu steigen. Aber eben nur fast. «Den Spuren folgend gelangte er an den Fuss des Claridenstockes, den er für das Scheerhorn hielt.» Professor Rambert bemerkte seinen Fehler auf dem Gipfel: Er blickte auf das Schärhorn – und stand auf dem Clariden. 

Vom Winde verweht

Wir haben es leichter. Als wir in der Morgendämmerung vor die Hütte treten, wissen wir haargenau, welches das Gross Schärhorn ist. «Das kommt gut», sagte uns zudem die Hüttenwartin vor dem Aufbruch. Sie habe eben den letzten Wetterbericht gelesen. Ein kurzer Abstieg über Felsen, dann ziehen wir los. Erst dem Rand des grössten Windkolks der Alpen entlang, den der stete Wind am Rand des Hinter Spitzalpelistock ausfrisst. Dann über das obere Plateau des Hüfifirns, der an eine Antarktis im Kleinformat erinnert, mit Gipfeln, die wie Nunataks aus ihm ragen. 

In einem Bogen schreiten wir durch diese Weite, dem Sporn des Chammlihorens entgegen. «Wäre der Hüfifirn ein Ozean», denke ich mir, «so stünde auf diesem Sporn ein Leuchtturm.» Dabei wirkt alles zum Greifen nah – und doch weiter weg als erwartet. Nur langsam kommen wir der Klippe näher, halten dann Kurs auf die Chammlilücke und nähern uns – noch auf dem Gletscher – der Nordflanke des Gross Schärhorns. Hier gilt es, vom Eis auf den Fels zu gelangen, was auf der Karte trivial wirkt. Nun aber suchen wir in einem Labyrinth aus Eisresten und Felsblöcken nach einer Route zum Berg, bis wir inmitten des Chaos auf einmal einen Steinmann entdecken. Was folgt, ist steiles Geröll, durch das wir – mal kraxelnd, mal wandernd – aufsteigen, immer dem Ostgrat entgegen. Während Geröll unter unseren Schritten talwärts kullert, beneide ich die Pioniere. Nach dem Verhauer von Prof. Rambert stieg eine Gruppe um den Basler Leonhard Fininger von Süden her auf und entschied sich für einen Aufstieg durch die Südostflanke. Vor meinem inneren Auge sehe ich sie, wie sie gut gelaunt durch Trittschnee steigen. Erst später werde ich in ihren Berichten lesen, dass die Flanke stellenweise blank war und Bergführer Trösch Stufen zu schlagen versuchte. Laut Fininger dauerte dies jedoch zu lange und so verliessen sie sich ganz auf ihre Fusseisen. «Ich gestehe aufrichtig, dass mir die Sache etwas bedenklich vorkam», schreibt Fininger dazu. «Sogar Trösch fand den Weg verdammt stotzig.» Doch sie schafften es. Um 9.30 Uhr standen sie auf dem Gipfel und fanden in einem Steinmannli die Flasche und einen Zettel, den der Basler Georg Hoffmann über zwanzig Jahre zuvor bei seiner Erstbesteigung deponiert hatte. 

Während wir noch durch die Nordflanke steigen, irritiert mich indes nicht nur das Geröll: Immer wieder fegen Böen vom Grat her über die Flanke. Manche so heftig, dass ich mich frage, wie sich diese im Gipfelbereich anfühlen werden. Eine Viertelstunde später wissen wir es: Auf dem Ostgrat kauernd, ist der Gipfel zum Greifen nah. Doch allen Prognosen zum Trotz donnert der Wind über uns hinweg, als hätte ein wilder Zauber ihn aus einem Versteck gelassen. Wir schreien einander Worte zu, die er wegreisst, doch unsere Gesten sind deutlich: Nichts wie weg hier – zurück in die Flanke! Die Pioniere waren auf dem Gipfel, die Baldern-Frauen auch. Wir kehren um. Doch noch im Abstieg nehme ich mir vor, zu diesem Berg zurückzukehren. Vielleicht im nächsten Frühling mit Tourenski. Oder nach einem Gletscherbiwak im Chammlijoch. Es ist immer schön, Pläne zu haben. Das Gross Schärhorn bleibt einer davon. 

INFOS 

Hochtour Gross Schärhorn, 3294m 

Gebiet
Das Gross Schärhorn ragt in der Kette von Clariden, Chammliberg, Chli und Gross Ruchen auf. Es liegt im Kanton Uri zwischen dem Schächental und dem hintersten Maderanertal respektive der mächtigen Gletscherfläche des Hüfifirn und bietet eine Hochtour in Firn und Fels. 

Tour
Aufstieg: Planurahütte-Hüfipass-Hüfifirn-Chammlilücke-Gross Schärhorn, WS, 3,5 Std., 450 Hm; Abstieg: Gross Schärhorn-Chammlilücke-Chammlijoch-Iswändli-Klausenpass, WS, 4,5 Std., 1400 Hm.
Ebenfalls möglich ist der Aufstieg/Abstieg über die Chammlilücke. Vorsicht ist geboten wegen Steinschlag am Fuss des Chammliberg. 

Übernachten
Planurahütte SAC, 2947m, 041 885 16 65, www.planurahuette.ch; Zustieg ab Alp Hinter Sand, T3+, 5,5 Std., 1650 Hm. Von Linthal Bahnhof fährt das Alpentaxi Zimmermann zur Alp Hinter Sand, frühzeitige Reservation unter 079/297 55 55. 

Anreise/Rückreise
Anreise mit dem Zug nach Linthal und weiter per Alpentaxi zur Alp Hinter Sand; Rückreise per Postauto vom Klausenpass nach Linthal oder Altdorf und weiter mit dem Zug, www.sbb.ch 

Karte
www.map.geo.admin.ch Swisstopo-Landeskarten (1:25'000): 1193 Tödi, 1192 Schächental 

Literatur
Tourenportal SAC
«Glarner Alpen – Alpine Touren – Walensee bis Tödi» von Hansueli Rhyner, Ruedi Jenny, Samuel Leuzinger, 11. Auflage, 2013, SAC Verlag  

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