Der perfekte Familiensonntag mit jungen Teenies? Europa-Park, Outlet Landquart, Basler Zoo und Schlittschuhfahren in der örtlichen Eishalle könnten da auf der Liste stehen. Zumindest dann, wenn man der aktuellen Familienwerbung in Radio und Fernsehen glaubt. Offen gestanden wäre da auch für uns etwas dabei – aber manchmal haben wir einfach keine Lust darauf, am Montag genau das Gleiche zu erzählen wie Arbeitskolleginnen oder Klassenkameraden.
Also packten wir morgens um fünf vier komplette Skitourenausrüstungen ins Auto und fuhren, eher weniger als mehr ausgeschlafen, nach Davos. Das Ziel der Familienskitour war, unsere zwei Jungs, zehn und 13 Jahre alt, heute Abend müder ins Auto zu packen, als sie morgens eingestiegen sind – was angesichts des Zustands beim Aufbruch zugegeben ein Wunder wäre. Helfen sollen uns dabei 40 Zentimeter Pulverschnee, kurze Aufstiege mit den Steigfellen und Gipfel, auf denen der Müesliriegel mindestens doppelt so gut schmeckt wie die Zuckerwatte im Europa-Park.
«Straightline» nach Barga
Minus zehn Grad zeigt das Thermometer an der Parsennbahn in Davos, bei strahlender Sonne. Zuletzt geschneit hat es vor drei Tagen. In vielen anderen Skigebieten wäre heute schon das gesamte Gebiet zerpflügt, aber in Davos findet man oft nach Tagen noch Unverspurtes, wenn man kurze Aufstiege nicht scheut. Woran das liegt? Hier schneit es ungefähr zehn Prozent weniger als in den Schneelöchern der Alpen, da die Davoser Berge keine Stauregion bilden, sondern eher an einem Pass liegen.
Und weil viele Freerider ihre Gebietswahl nach dem Neuschneeradar im Netz richten, stehen sich am Arlberg bei einem Meter Neuschnee alle auf den Füssen, während bei 90 Zentimetern in Davos nur zehn andere die Gipfelgondel nehmen.Nach zwei Umstiegen kommen wir oben am Weissfluhgipfel an und lassen den Blick vom Tödi bis zum Piz Bernina schweifen. Noch sind die Energiespeicher der Kids voll, die schnelle Ovo im Berggasthaus können wir auslassen. Nicht aber den obligatorischen LVS-Check, denn jetzt verlassen wir das gesicherte Pistengelände.
Die erste Abfahrt geht Richtung Langwies. Nach den ersten Schwüngen auf der Westseite des Weissfluhgipfels kommen wir an die erste Crux des Tages. Ein kleines Couloir, welches uns in einen unberührten Nordhang bringt, will auf den ersten Metern seitlich abgerutscht werden. Schnell ist das Seil aus dem Rucksack geholt, um den Jüngsten in unserer Runde zu sichern.
Obwohl die Schlüsselstelle der
Abfahrt vom Weissfluhjoch auch
ohne Seil machbar ist, sorgen wir
für etwas Steilwandfeeling (und
Selbstbewusstsein).
Unbedingt notwendig ist das Seil hier nicht, es gibt aber etwas mehr Selbstvertrauen für die kommende Passage und trägt ganz nebenbei dazu bei, sich ein wenig mehr wie eines der grossen Steilwandidole zu fühlen. Zwei Fliegen mit einer Klappe also.
Kurz darauf schwingen wir alle durch unberührten Pulverschnee den Sonnenstrahlen auf der Südseite entgegen. Mit den ersten Müesliriegeln und Steigfellen wappnen wir uns für den Anstieg zur Zenjiflue.
Die objektiven Bedingungen sind bestens, und für die subjektiven haben wir verschiedene Optionen in der Hinterhand: Entweder könnte man hier einfach dem Talverlauf folgen und über Langwies nach Arosa oder Lenzerheide gelangen – ein Abschnitt der sogenannten «3-Bahnentour», einem Graubündner Freeride-Highlight.
Falls, entgegen allen Erwartungen, nach der ersten Abfahrt nicht das bekannte «Gleich nochmal!» der Jungs ertönt, könnte man ab dem Heimeli gemütlich über die Schlittelpiste nach Langwies und die Tour bereits hier gemütlich ausklingen lassen. Wir aber laufen, zuletzt mit ein paar Spitzkehren, bis hinauf zur Gipfelwechte, an welcher man gut beraten ist, etwas mehr Abstand zu halten.
Wir sind die Coolsten,
wenn wir cruisen ... bei solchen
Traumbedingungen ist die
Motivation auf Familienskitour
kein Problem.
Nun wartet die wohl beste Abfahrt, welche man im Weissfluhgebiet fahren kann: Bis hinunter nach Barga warten 700 Höhenmeter abwechslungsreiches und unendlich weites Freeridegelände auf uns. Wenn die Bedingungen passen, kann hier jeder seine eigene Linie fahren und man trifft sich mit einem grossen Grinsen unten bei den Alphütten von Barga.
Auf dem Bänkchen vor der sonnenverbrannten Holzwand lassen wir uns den Proviant aus dem Rucksack schmecken und betrachten unsere Spuren – da schmeckt es gleich doppelt so gut.
Auch die nordseitigen Abfahrten vom Weissfluhgipfel kann man von hier gut betrachten. Einige dieser Steilwandabfahrten wurden erst vor Kurzem erstbefahren. Zeit bleibt jetzt auch, um ein wenig über die Skitechnik in steilem Gelände zu reden. Zwar sind unsere beiden Jungs schon recht vielseitige Skifahrer und beherrschen in jedem Gelände parallele Kurven. Um den Freeride-Idolen nacheifern zu können, kann man aber nie genug üben. «Der Candide Thovex wäre sicher Straightline gefahren!», meint der Grosse. Währenddessen bin ich froh, dass er es gerade eben doch mit Kurven versucht hat.
Mit Bigturns ins Tal. Da es
inzwischen auch für Kids Ski
mit ordentlicher Mittelbreite gibt,
kommt auch bei ihnen Freeride-
Feeling auf.
Wenn die Kids die Eltern guiden
Als alle Lines ausdiskutiert und die Gesichter mit Sonnencreme nachgeschmiert sind, ziehen wir ein zweites Mal die Felle auf. Zweihundert Höhenmeter hinauf zum Grüensee stehen auf dem Programm. Der Aufstieg ist nicht steil und wir können uns voll auf die Umgebung konzentrieren. Überall sehen wir mögliche, noch unberührte Abfahrten. Am liebsten würden wir jede einzelne direkt unter die Ski nehmen, und die Jungs schmieden Pläne für die nächste Tourenrunde in Davos.
Auf einer kleinen Kuppe oberhalb des Grüensees verstauen wir die Felle endgültig im Rucksack und fahren mit leichtem Gefälle hinunter zur Talstation der Schiferbahn. Von hier aus könnte man auf der längsten Talabfahrt der Schweiz auch noch weiter bis Küblis fahren. Auch diese Option hatten wir im Hinterkopf, falls die Beine hier schon zu müde werden. Wir wollen aber nochmals hoch ins Skigebiet, um den Tag mit einer letzten Abfahrt nach Davos zu beenden.
Mittlerweile hat die Sonne längst ihren Zenit erreicht, doch durch die kalten Temperaturen bleibt der Schnee in allen Expositionen pulvrig. Nach der langen Gondelfahrt mit der alten Schiferbahn stehen wir wieder oben am Weissfluhjoch und überlegen, welches wohl die schönste Abfahrt zurück nach Davos sein könnte.
Nach kurzer Besprechung einigen wir uns auf einen Kompromiss: Die Jungs setzen sich zwar mit ihrem Wunsch durch, dem Salezerhora nicht mehr ganz aufs Haupt zu steigen. Stattdessen queren wir aus dem Meierhofer Tälli seitlich in seine Flanke, die bis hinunter zum Davoser See führt. Und um die Motivation hochzuhalten, dürfen die beiden einzelne Abschnitte selbst planen und uns Eltern «guiden».
Auch hier ist das Gelände sehr spielerisch und es ist für alle etwas dabei.
Davos in Sicht: Am Ende
eines langen Tourentages sind
nicht nur alle happy; auch
die «Mission Müdigkeit» war
erfolgreich.
Steilere Passagen wechseln sich mit langen Abschnitten zum Dahingleiten ab. Wer noch Lust und Kraft zum Springen hat, findet immer wieder kleine Wechten oder Felsen, um etwas Luft unter die Ski zu bekommen. Nach der Hälfte der Abfahrt erreicht man ein paar Maiensässe, die nochmals grossartige Blicke über Davos bieten.
Kurz darauf müssen wir im Wald unsere Schwünge etwas enger anlegen. Mit den langsam müden Beinen fällt das teilweise gar nicht mehr so leicht, und die Kids denken gefühlt schon mehr an die Portion Pommes als an die Tempokontrolle. Doch auch diese Herausforderung meistern die beiden noch problemlos, und auf den letzten Metern hilft der gespurte Winterwanderweg noch etwas mit.
Müde, aber mit einem Rucksack voller Erinnerungen und neuen Plänen schnallen wir die Ski unten am Davoser See ab. Nur eine Haltestelle oder genau zwei Minuten lang dauert die Fahrt mit dem Postauto zurück zur Parsennbahn. Diese zwei Minuten reichen jedoch aus, um den Jungs ziemlich schwere Augen zu bereiten. Tagesziel erreicht!
Zitat
«Das Seil gibt Selbstvertrauen für die kommende Passage und trägt dazu bei, sich ein wenig mehr wie eines der grossen Steilwandidole zu fühlen.»
Fotos: Baschi Bender