Seit langer Zeit hatten Thomas Schmid und ich geplant, zehn Tage gemeinsam klettern zu gehen. Anfang Juni war das Wetter im Val di Mello perfekt, also fassten wir einen schnellen Entschluss: Freikletterversuch von «Joy Division» am Torrione Qualido. Dieser 800 Meter hohe Felsgigant schwebte mir schon oft im Kopf herum. Was Länge, Stil und Schwierigkeit angeht, steht er dem El Capitan in den USA in nichts nach.
Die Route ist eine Kombination aus drei bestehenden Linien, welche 2004 durch die lokale Kletterlegende Simone Pedeferri zum ersten Mal geklettert wurde, jedoch in mehreren Etappen an verschiedenen Tagen. Aus den letzten 20 Jahren sind nur wenige durchgehende Begehungen bekannt, wie die von James Pearson oder Babsi Zangerl und Jacopo Larcher.
Am ersten Tag war die Wand noch weitgehend nass, nur die erste Länge war trocken. Diese 8b ist zugleich die schwierigste der ganzen Route. Wir nutzten den Tag, um die Länge auszuchecken, was in dem flacheren Terrain eine echte Herausforderung ist. Klettereien dieser Schwierigkeit in nicht mal senkrechtem Gelände sind meist sehr komplex. Am Abend hatten wir jedoch beide eine brauchbare Lösung gefunden und konnten in dieser Länge schon richtig gut Klettern. Danach belohnten wir uns mit einem köstlichen italienischen Drei-Gänge-Menü unten im Tal.
Am nächsten Tag ging es wieder hoch, um bis und mit Seillänge vier auszuchecken. Da es am Morgen noch regnete, starteten wird erst relativ spät. Dies hatte auch den Vorteil, dass wir die guten Bedingungen am Nachmittag nutzen konnten. Die Wand ist bis kurz nach 14.00 Uhr komplett der Sonne ausgesetzt. Wie schon Babsi Zangerl und Jacopo Larcher geschrieben haben, sind die nächsten zwei Längen nur mit 7b+ bewertet, doch diese verlangen einem viel ab. Die vierte Seillänge ist dann nochmals mit 8b bewertet. Auch hier war es zuerst relativ schwierig herauszufinden, wie die Länge zu klettern ist. Doch sobald die Lösung mal gefunden war, ging es dann schon relativ gut.

Am dritten Tag legten wir einen Ruhetag unten im Tal ein. Danach ging es nochmals hoch, um die nächsten Längen anzuschauen. Unser Ziel wäre eigentlich gewesen bis zur Länge 11 zu klettern, diese ist mit 7c+ bewertet, danach wird die Kletterei deutlich einfacher. Jedoch lief es an diesem Tag nicht nach Plan. Wir kletterten in der prallen Sonne und mussten feststellen, dass zwischen 10 und 14.30 Uhr an schwieriges Klettern nicht zu denken war. Zum Auschecken musste es aber irgendwie gehen. Die fünfte Seillänge (7a) ging ganz gemütlich. Danach folgt eine 7a+. Diese hat bereits einen herausfordernden Plattenboulder in der Mitte. Danach kommt eine plattige 7b+ mit zwei Boulderstellen.
7b+ tönt auf dem Papier nicht wirklich schwierig, aber im nicht mal senkrechten Granit ist auch das eine echte Herausforderung. In der prallen Sonne kam es mir fast unmöglich vor. Irgendwie konnte ich aber trotzdem eine Lösung finden. Die nächste Länge, eine grasige 6a+, war dann noch etwas nass, aber ging ganz passabel. Danach kletterte ich noch einige Meter der querenden 7b+. Auch diese war noch etwas feucht. Ich realisierte, wenn wir hier weitergingen, könnten wir nicht mehr über die Route
abseilen. Darum beschlossen wir umzukehren. Die Sonne hatte uns ziemlich fertig gemacht und wir stiegen wieder runter ins Tal.
Auf dem Weg mussten wir uns ernsthafte Gedanken über unsere Strategie machen. Uns wurde klar, dass unser ursprünglicher Plan, die Route an einem Tag zu klettern, nicht realistisch war. Die Hitze bis fast 15.00 Uhr, die anhaltende anspruchsvolle Kletterei, wie auch die Länge der Wand bewogen uns dazu, ein Portaledge aufzutreiben und die Route innerhalb von zwei Tagen zu versuchen. So könnten wir frühmorgens klettern, am Mittag Siesta auf dem Ledge machen und dann bis in die Dunkelheit weiterklettern. Somit war dieser zweite Ruhetag gefüllt mit Organisation. Zu unserem Glück bekamen wir vom italienischen Kletterer Niccolò Bartoli ein Portaledge geliehen.
Am nächsten Morgen holte uns der Wecker bereits um 5.00 Uhr früh aus dem Schlaf. Wir wollten die guten Bedingungen am frühen Morgen nutzen. Was nun folgte, fühlte sich für mich wie der reinste Kletterkrimi an:
Noch vor 7.00 Uhr, völlig verschlafen und nicht aufgewärmt, steige ich in die erste Länge ein. Der Plan war eigentlich, die Länge durchzubouldern, um warm zu werden. Die ersten zehn Meter bis zur ersten Boulderstelle sind noch relativ einfach, dann kommt ein No-Hand Rest. Ich überlege noch, ob ich nicht doch schnell ins Seil sitzen soll, entscheide mich aber dagegen und klettere bald schon weiter in den Boulder hinein. Delikate Fusswechsel, Daumenstützer und immer an der Grenze zwischen voll auf den Füssen stehen und doch noch etwas Gewicht mit den Fingern abnehmen, damit der Fuss nicht rutscht. Zu meinem Erstaunen gelingt mir dieser Teil relativ locker. Nun werde ich nervös. Wird dies nun doch noch ein vielversprechender Versuch? Kurz schütteln und weiterklettern.
Noch nicht ganz wach und doch fokussiert gelingt mir auch der obere Teil dieser Länge, und noch vor 7.00 Uhr ist die schwerste Länge der Tour geschafft. Jetzt sind es «nur» noch 19 Längen, die sturzfrei gehen müssen. Thomas lässt mich gerade wieder runter, damit ich ihn sichern kann. Jedoch hat es nun schon etwas Sonne in der Länge, was den Fels sofort aufheizt. Thomas macht trotzdem einen Versuch, stürzt jedoch beim ersten Boulder. Anstatt auf einen zweiten Versuch zu hoffen, entscheidet er sich schnell, seine eigenen Freikletterambitionen zugunsten des Teams aufzugeben. Was für eine edle Geste. Im Vorhinein hatten wir abgemacht, dass wir die Taktik von Babsi und Jacopo übernehmen: Alle Längen ab 8a werden von beiden im Vorstieg geklettert, darunter wird überschlagen, und es muss jede Länge auch im Nachstieg ohne Seilzug und sturzfrei geklettert werden. Also fahren wir so fort.
Die nächsten zwei 7b/7b+-Längen fordern nochmal alles. Wir sind sie beide vorher nur einmal durchgeklettert, und beide haben es für den Grad richtig in sich. Vor der vierten Länge stellen wir das Portaledge auf und warten auf den Schatten. Das Warten ist brutal, sind es doch immer
noch 17 Seillängen und 11 davon unbekannt. Zudem macht es müde, und ich merke langsam auch, dass ich nicht super erholt bin vom Laufen und Klettern der vorherigen Tage. Zweifel kommen auf. Doch sobald der Schatten da ist, steige ich fokussiert ein. Alle Stellen gehen locker. Vor dem Stand mache ich einen kleinen Fehler und falle in einen der alten, rostigen 8-mm-Bohrhaken.

Wieder unten sichere ich Thomas in der Länge. Er ist trotz des Scheiterns in der ersten Länge motiviert, weiterzuklettern und einfach Spass dabei zu haben. Dies ist für mich extrem hilfreich. So können wir die Zeit trotz des Drucks von meiner Seite in einer entspannten Atmosphäre geniessen. Beim zweiten Versuch passt dann alles, und die beiden schwierigsten Längen sind geschafft. Wir klettern die nächsten Längen, 7a, 7a+ und 7b+ überschlagend weiter und profitieren vom Schatten am Nachmittag. Ich merke jedoch, dass ich mich extrem konzentrieren muss. Die Schwierigkeiten sind zwar nicht mehr super hoch, jedoch haben wir diese Längen nur sehr flüchtig angeschaut. Sie bestehen hauptsächlich aus plattigen, boulderlastigen Einzelstellen. Das heisst, beim kleinsten Fehler kann dir immer der Fuss abrutschen, was einen Sturz bedeutet. Zum Glück geht alles sturzfrei, und wir sind gegen 20.00 Uhr am Stand der siebten Länge, wo wir das Portaledge aufstellen.
Bevor wir uns für die Nacht bereit machen, geniessen wir noch ein Birra Moretti mit ein bisschen Bresaola und lokalem Käse. Was für ein genialer Apéro. Nun wird mir aber auch bewusst, dass meine Freikletterambitionen immer realistischer werden. Jedoch sind wir uns nicht ganz sicher, welche Variante wir klettern wollen: die Originalroute oder, wie Babsi und Jacopo, nach Länge neun für vier Seillängen in «Con un piede in paradiso» zu wechseln. Diese hat zwar eine schwierigere Länge als die Originallinie, sei aber besser zu Klettern. Etwas verzweifelt nehme ich Kontakt mit dem Kletterpaar auf. Dank ihrem guten Rat tendiere ich bereits am Abend dazu, in die andere Linie zu wechseln. Wir warten aber mit der Entscheidung noch, bis wir dort sind.

Am nächsten Morgen geht es wieder früh los. Die 6a+ nach dem Biwak ist gerade super zum Warmwerden. Danach wartet eine querende 7b+ auf uns, die als einzige Länge bisher keine Bohrhaken hat, sich aber gut absichern lässt. Sie gelingt mir auf Anhieb, was ein weiteres wichtiges Puzzleteil für das Gelingen ist. Auschecken und nochmals versuchen wäre wegen der Querung zeit- und kraftraubend gewesen. Die 7a und 7c+ der Originallinie sehen enorm grasdurchzogen aus. So entscheiden wir uns, nach rechts in die andere Linie zu wechseln. Thomas steigt eine superschöne 6c+-Verschneidung vor – purer Klettergenuss. Danach sind wir am Stand unter der letzten schwierigen Länge, einer 8a (6b+/A1), die mit einer Platte beginnt und mit einem überhängenden Riss endet. Doch vorerst ist wegen der Temperaturen nicht an Klettern zu denken.
Wir stellen wieder das Ledge auf und machen Siesta. Wieder kommen Zweifel auf. Der Plan wäre eigentlich gewesen, an diesem Abend wieder unten zu sein, und es warten immer noch 10 Seillängen auf uns. Zum Glück haben wir noch etwas Essen und Wasser dabei. Dies stimmt mich positiv. Nach 14.00 Uhr steige ich in die Länge ein, um sie auszuchecken. Ich tue mich brutal schwer, eine Lösung zu finden. Nach über einer Stunde bin ich wieder unten mit einer grossen Ungewissheit, ob ich diese Länge noch schaffe.
Thomas gibt mir einen motivierenden Tritt in den Hintern: «Jetzt kletterst du diese Länge, dann steigen wir durch. Ich hab' dich jetzt nicht zwei Tage unterstützt, damit du es nun hier wegen einer 8a-Länge versaust.» Genau das, was ich gebraucht habe. Beim ersten Versuch mache ich noch einen Fehler unten
auf der Platte. Ich schaue es mir nochmals an und steige fünf Minuten später die Länge durch. Was für eine Erleichterung! Nun ist es aber bereits 16.00 Uhr. Wir lassen das Portaledge hängen und klettern weiter. Nun sind alle Zweifel weg.

Thomas steigt die nächste Länge vor, eine technische kurze 7a, und markiert mir die Griffe und Tritte. Der Boulder gelingt mir ohne grosse Probleme. Doch auf den letzten Metern zum Stand verspüre ich plötzlich die ersten Regentropfen. Ich kann es nicht fassen: Macht uns nun ein Gewitter einen Strich durch die Rechnung? Vor lauter Durchstiegsstress ist mir gar nicht aufgefallen, dass sich um uns herum riesige Gewitterwolken aufgebaut haben. Ein Blick auf den Radar zeigt, dass ein Gewitter in den nächsten Stunden kommen könnte. Wir entscheiden aber, weiter zu pushen, solange es geht.
Nach der nächsten Länge erreichen wir das grosse Band mit dunklen Wolken im Nacken aber ohne Regen. Von hier queren wir diagonal nach rechts, um in die Route Melat zu gelangen. Hier wird das Gelände etwas alpin: grasdurchsetzte Bänder und Verschneidungen. Nach zwei abenteuerlichen Längen befinden wir uns in besagter Linie. Um beim Abseilen hier wieder rüberzukommen, fixieren wir das Seil, das wir gebraucht haben, um die Säcke hochzuziehen. Danach verziehen sich die Wolken, und nach vier weiteren schönen und moderaten Längen stehen wir um 21.00 Uhr glücklich auf dem Gipfel.
Nach einer Umarmung und einer kurzen Pause beginnen wir bald mit dem Abseilen in die Nacht. Dies geht dann ohne grosse Komplikationen dank des fixierten Seils. Um halb zwölf sind wir wieder im Portaledge und verbringen eine weitere Nacht in dieser unglaublichen Wand. Den Rest seilen wir am nächsten Morgen ab.
Insgesamt haben wir fünf Tage in der Route verbracht. Für mich war das sicher eines der prägendsten Klettererlebnisse. Selten bin ich so anspruchsvolle Klettermeter in so wenig Zeit frei geklettert und das mit sehr schwierigen Bedingungen wegen der Hitze und der Exposition der Wand. Ohne die geniale Unterstützung von Thomas wäre dies nicht möglich gewesen. Ein weiterer spezieller Dank gilt Niccolo Bartoli, der uns sein Portaledge ausgeliehen hat, sowie Babsi und Jacopo für die hilfreichen Last-Minute-Tipps. Ich freue mich bereits jetzt auf den nächsten Ausflug ins Val di Mello.
Fotos © Diego Schläppi
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