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Auf Beobachtungstour im Tierreich der Alpen

Fabian Reichle, Freitag, 10. Juni 2022

Die kontinuierliche Besiedelung des Alpenraumes durch Menschen reicht über 8'500 Jahre zurück. Seit jeher sind die Bergregionen kulturell und ökonomisch wichtige Begleiter. Doch lange bevor der Homo Sapiens die schroffen Gebiete zähmte und Räume für Nutztiere öffnete, bevölkerten Wildtiere die unzugänglichen Welten aus Stein und Eis. Viele – aber leider nicht mehr alle – dieser Tiere nennen das Gebirge auch noch heute ihre Heimat. Einen kleinen Teil dieses Tierreichs haben wir genauer unter die Lupe genommen.

Dabei ist die Fauna der Alpen einerseits unscheinbar, andererseits vielseitig und faszinierend. Nur wer genau hinschaut und zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, erspäht Steinbock, Murmeli und Co. Und während sich die einen fast schon handzahm entlang Wandergruppen bewegen, verstecken sich andere lieber vor fremden Blicken. Letzteres kommt nicht von ungefähr, denn die Anwesenheit des Menschen wird oft instinktiv als Gefahr wahrgenommen. Bei einer allfälligen Flucht durch unwegsames Gelände verbrauchen Tiere mitunter enorme Energiereserven, die im schlimmsten Fall zum Erschöpfungstod führen können. Daher gilt – auch bei anscheinend entspannten Tieren – stets einen grosszügigen Abstand einzuhalten und den natürlichen Lebensraum und entsprechendes Verhalten zu respektieren. Mit diesem Verhaltenskodex als Basiswissen gehen wir über zum vielleicht imposantesten Bewohner der Bergwelt.


Steinbock


Wenn der Löwe der König der Tiere ist, so ist der Steinbock zumindest der König der Alpentiere. Vor allem die männlichen Exemplare mit ihrem majestätischen Gehörn haben durchaus etwas Erhabenes – dieses wird bis zu einem Meter lang. Auch sein Lebensraum, der ab der Baumgrenze bis zu einer Höhe von 3'500 Metern über Meer reicht, ist eindrücklich. Dabei steigt er grazil über Eis und klettert auch scheinbar unüberwindbare Felspassagen empor. In den Wintermonaten begibt sich der Steinbock in tiefere Lagen, wo es weiterhin Futter zu finden gibt.

Die grösste Population an Steinböcken lebt am Piz Albris oberhalb von Pontresina. Eindrückliche 1'900 Tiere umfasst die Kolonie, die im Herbst teilweise bis an den Dorfrand vordringt. Das ist übrigens nicht selbstverständlich, denn der Steinbock wurde bis vor nicht allzu langer Zeit systematisch gejagt und an den Rand der Ausrottung getrieben. Eine effektive Repopulation hat dafür gesorgt, dass in der Schweiz mittlerweile wieder rund 17'000 Exemplare leben. Daher lassen sich die Tiere mittlerweile in beinahe allen höheren Regionen beobachten.


Gämse


Die Gämse ist ein ziegenartiges Tier und ein formidabler Kletterer. Sie kommt im Schweizer Alpenraum sehr oft vor, wer mit offenen Augen in den Bergen unterwegs ist, hat gute Chancen auf eine Sichtung. Vornehmlich ist die Gämse jedoch oberhalb der Baumgrenze anzutreffen. Vor allem sollte man Weiden und felsige Steilhänge beobachten, dort fühlt sie sich besonders wohl.

Distanz ist besonders wichtig. Gämsen wittern Gefahr bereits aus mehreren hundert Metern und treten schlagartig die Flucht an. Dabei sprintet sie übers Gelände, das selbst für professionelle Bergsteiger anspruchsvoll ist. Das bewerkstelligt sie mit ihren besonderen Hufen, die wie eine rutschfeste Gummisohle funktionieren.


Murmeltier


Ein niedlicher Bewohner ist das Murmeltier auf alle Fälle. Das Nagetier mit einer Körpergrösse bis zu 50 Zentimeter lebt in Familien mit bis zu 15 Mitgliedern und lebt unter der Erde in ausgeklügelten Höhlensystemen. Diese legen sie auf offenem Gelände, beispielsweise unter Wiesen, an. Dadurch fehlt ihnen im Freien ein natürlicher Sichtschutz. Diesem Manko entgegnen sie, indem sie «Wachen» aufstellen, die mit markanten Pfiffen ihre Artgenossen vor Gefahren warnen. Gut zu wissen: Mehrere kurze pfiffe bedeuten Gefahr am Boden, langgezogene hingegen deuten auf eine Bedrohung von oben hin. Falls ihr letzteres hört, lohnt sich der Blick in den Himmel. Die Chance, einen Raubvogel zu erspähen, ist gross.

Murmeltiere sind verhältnismässig zahm und sind sich in manchen Regionen an Menschen gewöhnt. Wenn es ihnen zu viel wird, verschwinden sie jedoch blitzschnell im Untergrund. Sowieso sind sie nur in den warmen Monaten anzutreffen. Rund 80% ihres Lebens schlafen sie gemütlich unter der Erde – meist von Anfang Oktober bis Mitte April. Wer sie dennoch zu Gesicht bekommen möchte, begibt sich vornehmlich ins Bergalgatal bei Avers oder nach Zermatt sowie Saas-Fee. Dort befinden sich besonders grosse Populationen.


Rothirsch


Der Rothirsch ist ein mächtiges Tier und gehört zu den grössten freilebenden Wildtieren Europas. Durch seine imposante Statur und sein eindrückliches Geweih verfolgte ihn lange Zeit ein ähnliches Schicksal wie dem des Steinbocks: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der Rothirsch in der Schweiz ausgerottet. Durch Wanderungen über Alpenpässe konnte sich der Bestand jedoch wieder erholen.

Im Val Trupchun des Schweizer Nationalparks leben die Tiere in freier Wildbahn. Hier wird es besonders während der Brunftzeit im September richtig laut. Rund 500 Rothirsche röhren sich die Seele aus dem Leib. Ähnlich klingt es in den Wäldern von Soi bei Champéry im Wallis. Eine weitere Aktion der männlichen Exemplare, um die Gunst der Weibchen zu kämpfen ist der sogenannte Schiebekampf, bei welchem zwei Kontrahenten Geweih-in-Geweih den wortwörtlichen Platzhirschen untereinander ausmachen. Bei der Beobachtung dieses Spektakels hält man sich am besten auf Distanz – das aber hauptsächlich daher, weil der Rothirsch den Menschen aufs Tunlichste meidet.


Alpenschneehuhn


Ein Huhn in den Bergen? Natürlich. Und was für eines. Das Alpenschneehuhn liebt garstige Temperaturen. Bereits ab 15 Grad Celsius ist es ihm zu warm und es zieht sich an schattige Plätze zurück. Während es im Sommer ein geflecktes Gefieder trägt, macht es im Winter seinem Namen alle Ehre, denn dann erscheint es in weissem Kleid. Selbst die Zehen werden für einfacheres Laufen über Schneelandschaften mit weissen Federn überwachsen.

Diesen Umstand nutzt das Tier als perfekte Tarnung, die offensichtlich wirkt. Selbst wenn das Knirschen der Krallen im Schnee hörbar ist, so ist das Alpenschneehuhn nur sehr schwer sichtbar. Zudem verlässt es nur selten den Boden, seine Flügel setzt es wie seine Artgenossen nur äusserst spärlich ein.


Bartgeier


Der grösste Vogel der Alpen. Bartgeier haben eine Flügelspannweite von über 2,6 Metern und können 7 Kilogramm schwer werden. Trotzdem ist er ein seltener Gast, laut der Vogelwarte Sempach sind es momentan maximal um die 15 Paare, die den Schweizer Himmel bevölkern. Damit gehört der Bartgeier leider zu den vom Aussterben bedrohten Arten.

Typisch für Geier ernährt sich der Vogel von Aas und Knochen. Diese findet er meist oberhalb der Baumgrenze, die topografisch grosse Höhenunterscheide aufweisen. In diesen Gebieten herrschen in der Regel gute Thermik und Aufwinde, die der Bartgeier für seine Flugkünste nutzt. Ein Gebiet, in dem er sich wohlzufühlen scheint, ist unter anderem der Schweizer Nationalpark.


Steinadler


Der Steinadler hat eine ähnliche Symbolkraft wie der Steinbock. Er gehört zu den grössten Vögeln im Alpenraum und durch seinen eleganten Flugauftritt bringt er Beobachtende ins Staunen. Auch er litt unter der systematischen Jagd, hat diese jedoch im Gegensatz zu anderen Gattungen mehr oder minder gut überstanden. In der Schweiz existieren mehrere hundert Paare – den Steinadler zu Gesicht zu bekommen ist also durchaus realistisch.

Meist findet man ihn in über offenen und halboffenen Landschaften. Dabei ist er wenig heikel – alpine Grashügel, Moore, kleine Wäldchen – hauptsache er findet genügend Futter. Sein Menüplan besteht aus Säugetieren, die nicht selten erheblich schwerer als der Steinadler selbst sind.

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