«Seit ich denken kann, bedeutet mir unabhängige Freiheit unglaublich viel. Ich finde sie in der Natur, beim Sport und besonders in der Gemeinschaft. Schon als Kind verbrachte ich meine Freizeit am liebsten mit Klettern, später entdeckte ich meine Begeisterung für das Akrobatik-Gleitschirmfliegen. Ich liebte es, durch die Lüfte zu gleiten, und reiste gemeinsam mit meinen Freunden an die verschiedensten Orte der Welt, um dieses Gefühl zu erleben.
Foto: Nanna Kreuzmann
Es ist Februar 2019. Ich fliege in Marokko durch die Lüfte, geniesse den Wind der um meine Ohren pfeift. Ich leite einen Trick ein und fühle, wie die G-Kräfte mich in das Gurtzeug zwängen. Mit grosser Geschwindigkeit geht es abwärts. Doch habe ich noch die benötigte Höhe, um den Trick wieder auszuleiten? Die Steine am rauen Wüstenboden werden immer grösser. Und dann passiert es: Der Aufprall. Mein Schrei.
Ich liege mit dem Rücken auf dem Boden, alles um mich herum verschwimmt. Der Schmerz ist unerträglich, als ob der gesamte Körper in tausend Stücke zerbricht. Ich kann mich nicht bewegen. In diesem Moment ist alles still, ich spüre nur diesen schneidenden Schmerz, der sich in mir verankert.
Im Krankenhaus sagte der Arzt klar: „Ein schwerer Rückenbruch. Wir können nur hoffen, dass du wieder laufen kannst.“ Mehrfache Operationen, mehrere Monate im Krankenhaus, die Reha – es war zäh, und alles zog sich in die Länge. Vom langen Liegen, zum Sitzen im Rollstuhl bis hin zu den ersten Schritten. Mein Leben wurde zur Geduldsprobe und sowohl mental als auch körperlich zu einer Herausforderung.
Der Gedanke, dass mein Leben nie wieder so sein würde wie vorher, quälte mich. Werde ich jemals wieder Gleitschirmfliegen, klettern, kitesurfen können? Insbesondere war die gemeinsame Zeit mit meinen Freunden sehr oft an den Sport geknüpft, da ich schon seit meiner Kindheit einen aktiven und sportlichen Lifestyle lebte. Nicht in der Lage zu sein, beim Gleitschirmfliegen oder Klettern regelmässig meine Freunde zu sehen und die Natur mit ihnen zu erleben, hinterliess tiefe Narben und liess mich etwas verloren zurück.
Foto: Nanna Kreuzmann
Doch es kam der Punkt, an dem ich begriff, dass ich nicht einfach aufhören konnte zu leben, nur weil der Körper nicht mehr so funktionierte wie vorher. Ich wollte etwas finden, das in mir wieder Freude erweckte, auch wenn der Schmerz nicht einfach verschwinden würde.
Das Freitauchen war die erste sportliche Möglichkeit, die mein Körper zuliess und bei der ich wieder echte Freude empfand. So fand ich mich fast täglich im Wasser des Zürichsees. Ich tauchte ab in die Stille und Schwerelosigkeit des Wassers, weg von allem, was mir körperlich und innerlich Schmerzen bereitete.
So zog es mich schliesslich nach Dahab, einem kleinen, abgelegenen Ort im Sinai, der neben seiner offenen Community auch für das Freitauchen bekannt ist. Mit jedem Tauchgang kam ich meinem inneren Frieden ein Stückchen näher und mein Körper konnte sich im Wasser langsam regenerieren. Zudem brachte jeder Tag neue Begegnungen mit sich und intensive Freundschaften entwickelten sich. Gemeinsam wurde getaucht, am Lagerfeuer gelacht, Musik gemacht und gesungen.
Doch es war nicht nur das Wasser, das mir half, mich wieder lebendig zu fühlen. Ich erfuhr von den Klettermöglichkeiten und wollte unbedingt die „Local Cracks“ besuchen. So lieh ich mir Klettergurt, Schuhe und Seil von den lokalen Beduinen und fuhr mit ein paar Freunden in das Wadi - wie die „Schlucht“ von den Einheimischen genannt wird. Als ich in der Stille der Wüste die ersten Griffe berührte, spürte ich wieder das alte Gefühl von Freiheit, das mich beim Klettern immer begleitet hatte. Zug für Zug erinnerte sich mein Körper wieder an die Bewegungen und so konnte ich innerhalb von einigen Monaten meine ursprüngliche Kraft fast vollständig zurückerlangen.
Foto: Nanna Kreuzmann
Doch die Schwierigkeitsgrade der Kletterrouten in der Umgebung von Dahab waren leider sehr begrenzt und es gab kaum Routen über dem französischen Grad 6b zu finden. Das wollte ich unbedingt ändern. So beschloss ich neue Routen zu erschliessen und neue Wände auszukundschaften. Meine Motivation war gross und die Möglichkeiten schier unendlich. Es gab nur ein Problem und das war das Besorgen von passendem Material. So kehrte ich zurück in die Schweiz und kam mit Bohrmaschine, zig Dutzend Bohrhaken und Umlenkern wieder in den Sinai.
Inzwischen sind rund vier Jahre vergangen, und ich habe etwa 50 Routen erschlossen, vom 5. bis zum oberen 8. französischen Grad. Das Material dafür organisiere ich grösstenteils selbst, erhalte aber auch Unterstützung durch Privatpersonen oder Fachgeschäfte wie Bächli Bergsport, die mich mit Spenden oder Materialgaben fördern.
Der Sinai, der für so viele einfach nur Wüste und Wasser ist, wurde für mich zu einem Ort der Transformation. Der Aufprall, der lange Prozess im Krankenhaus, die ersten Schritte, der erste Tauchgang, der erste Kletterzug und schliesslich das Einbohren neuer Routen – all das verdanke ich einer unglaublich liebenswerten Gemeinschaft, die mich auf meinem Weg unterstützt hat.
Die unabhängige Freiheit, sich frei zu bewegen, wurde zurückerobert. Durch Höhen und Tiefen durfte ich lernen, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist. Ich bin diesen Weg gegangen, doch ohne meine Freunde wäre ich heute nicht da, wo ich jetzt bin.»
Finde die Routen von Tobias im Sinai-Kletterführer
Tobias Müller auf Instagram: wings_for_heaven
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