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Freiberge - mystischer Jura

Iris Kürschner, Donnerstag, 13. Dezember 2018

Die Freiberge sind ein Paradies für Schneeschuhgänger. Wenn die Winterstürme über das Hochplateau ziehen, hinterlassen sie eine verzauberte Landschaft. Dann zeigt sich der Jura von seiner mystischen Seite.

Der Zug rauscht weiter und wir stehen mitten in der Pampa. Station Chaux d’Abel. Als würde man am Ende der Welt entlassen. Schon auf der Anfahrt von Basel aus wurde die Landschaft immer leerer. Ein paar verstreute Einzelhöfe, hie und da ein Dorf. «Die Freiberge sind Urlandschaft. Der Jura singt hier das epische Lied der Unendlichkeit. Von einem Weltende zum andern streichen die niedrigen Kämme, scheinbar ziellos und endlos in ewiger Wiederholung der Motive», beschreibt es 1949 der Redakteur Siegfried Streicher treffend in der Monatszeitschrift DU. Freiberge bezeichnet ein 200 Quadratkilometer grosses Plateau auf rund 1000 Metern Höhe zwischen dem Doubstal und dem Vallon de Saint- Imier. Mit seiner Weite ist es wie geschaffen für ausgedehnte Schneeschuhtouren. Südöstlich wird das Plateau von der Montagne du Droit begrenzt, einem Höhenrücken, der nordöstlich im 1268 Meter hohen Mont Crosin und südwestlich im 1289 Meter hohen Mont Soleil kulminiert. Seit 2001 zählt er zum Naturpark Chasseral. Ein einmaliger Aussichtsbalkon, per Standseilbahn vom Uhrenstädtchen Saint-Imier aus auch ohne Anstrengung erreichbar. Wir aber wollen ihn über seine gemächliche Nordwestseite erklimmen. An der unscheinbaren Bahnstation ziehen wir unsere Schneeschuhe an und stapfen ostwärts, auf eine Anhöhe zu, auf der ein einsames Haus thront. Das Hôtel de la Chaux d’Abel vermittelt Belle-Époque-Atmosphäre. Nochmal mehr, betritt man den Salon: Feuer prasselt im Kamin, daneben ein rustikaler Holztisch, auf dem die Tageszeitungen ausliegen, Ohrensessel, in die man sich fallen lassen möchte. Über dem Eingang hält eine Zahl das Baujahr fest: 1857. 1910 wurde das Anwesen zum Kurhotel umgebaut.

FREIE BERGE, FROMME QUERKÖPFE
Wenn Dackel Popeye auftaucht, ist Gabriela Haas nicht weit. Seit 2012 ist sie die Hausbesitzerin. Sozusagen aus Basel in die Freiberge emigriert. Für sie ein Glücksfall, doch liegen da durchaus historische Wurzeln. Über Jahrhunderte gehörte die Region dem Fürstbistum Basel. Um einen Anreiz zur Besiedlung der Einöde zu geben, setzte der Bischof von Basel am 17. November 1384 einen Freibrief auf, darin er jedem Bewohner und Kolonisten die Befreiung von jeglichen Steuern versprach. Deshalb also Freiberge. Am Wiener Kongress 1815 wurde das Land dem Kanton Bern zugesprochen. Bis sich 1977 der Kanton Jura, als jüngster und dünnbesiedeltster Kanton der Schweiz, herausbildete. Amtssprache Französisch, demzufolge heissen die Freiberge Franches Montagnes. Nichtsdestotrotz, mal wird Französisch, mal Deutsch gesprochen, oder auch beides. Der Südostrand des Plateaus, wo sich der Hügelwall des Mont Soleil, des Sonnenbergs aufschwingt, gehört immer noch zum Kanton Bern. Gabriela Haas deutet auf die Landstrasse, gerade auf der anderen Seite ziehe die Grenze durch. Die quirlige Baslerin entschuldigt sich. Der Schnee liegt etwas mager. Normalerweise türmen sich im Februar wahre Schneemassen. Doch der Klimawandel schlage auch hier zu. Die Loipe, auf der sie täglich ihre Runde drehe, sei schon gesperrt. Mit Schneeschuhen geht es auch auf dünner Schicht, wir haben es gerade getestet. Auf dem Mont Soleil sei die Lage noch bestens, sagt sie. Das gibt Hoffnung. Sie quartiert uns in einem Zimmer mit verglaster Veranda ein. Weit kann der Blick über die stille Juralandschaft schweifen.

Beim Frühstücksbuffet schmeckt uns der Käse so gut, das wir nachfragen. Die Käserei von Kurt Zimmermann liege nur einen Katzensprung entfernt, sagt Gabriela Haas und erklärt uns den Weg. So machen wir einen kleinen Schwenk, bevor wir den Mont Soleil besteigen. Guter Käse lockt uns immer und ist kraftspendende Wegzehrung für eine Tour. Eine Häuserreihe an verlassener Strasse taucht auf. Milchkannen verraten das richtige Haus. Rezenter Duft schlägt uns schon im Entrée entgegen. Im Keller die Schatzkammer, wo radgrosse Laibe reifen, Gruyère und Chaux d’Abel. Die kleineren heissen Tête de Moine, Mönchskopf, oder Tatouillard, Schneeflocke – jurassische Käsespezialitäten. «Die wilden Käser haben sie uns genannt», lacht Pascal, der Juniorchef, «weil wir nicht bei der Schweizerischen Käseunion mitmachten. Ein Kuhhandel. Nur zwei, drei Käse zum Eigenbedarf durften behalten werden. «Bei Mehrbedarf hätten wir unseren eigenen Käse teuer zurückkaufen müssen.» Wie häufig im Jura gehört auch Pascals Familie zu den Mennoniten, den Wiedertäufern oder Anabaptisten. Eine Gruppe, die sich im 16. Jahrhundert von den Reformisten separierte. Unter anderem, weil man die Kindertaufe und jegliche Gewalt, also den Militärdienst ablehnte. Über Jahrhunderte gejagt, gefoltert oder gehängt, musste die Religionsausübung im Untergrund stattfinden, Gottesdienste heimlich im Wald oder in Privathäusern abgehalten werden. Viele fanden Zuflucht in abgelegenen, einsamen Gebieten. Auf den Jurahöhen, versprach dazumal der Bischof von Basel, könne er den Mennoniten Sicherheit garantieren. Über 30 Jahre wurde auch das Hôtel de la Chaux d’Abel von Mennoniten geführt. Den Rucksack um ein Kilo schwerer stapfen wir in die Höhe.

TURBULENT UND TIEFGEFROREN
Am Mont Soleil erleben wir Winterzauber, auch wenn wenig Schnee liegt. Zur klirrenden Kälte gesellt sich der Windchill hinzu. Mächtige Nadelbäume, die wie Kathedralen in den Himmel ragen, zeigen sich eisverkrustet. Ein Märchenwald in Puderzucker. Man kann sich nicht sattsehen. Aber die Kälte zehrt, dringt in jede Ritze. Die Klamotten am Körper knarren und knirschen bei jeder Bewegung, wie ein Zombie. Und so klingen auch die Windräder, die sich auf dem Höhenzug der Montagne du Droit verteilen. Furchteinflössend. Wenn uns bloss kein Eisfall von den mächtigen Rotorrädern trifft! Wir halten gebührenden Abstand.

«Jene Landesherren, die im 14. Jahrhundert die Einwanderung gefördert hatten, mussten im 17. Jahrhundert Befehl zur Einstellung der Rodungen erteilen, hatten sich doch bereits die Nachteile übertriebener Entwaldung gezeigt», schreibt Heinrich Gutersohn 1950 in der Geographica Helvetica. «Eine unerwünschte Folge besteht darin, dass die rauhen Höhenwinde durch die offeneren Gelände streichen können», stellte der Geograph und Professor an der ETH Zürich fest. Noch war die Zeit nicht reif, das Potenzial des Windes zu erkennen und zur Energiegewinnung zu nutzen. Eine Vorreiterrolle nimmt die 1996 gegründete Firma Juvent SA ein, die mit drei Windrädern am Mont Crosin startete. Heute bildet der Windpark mit 16 Anlagen den grössten der Schweiz. Der Strom von jährlich rund 70 Millionen Kilowattstunden versorgt an die 21’000 Haushalte. Aber auch der Sonne nahm man sich hier an: So sammelt die Photovoltaikanlage am Sonnenberg – nomen est omen – Energie für 120 Haushalte. Ein Energielehrpfad der Krete entlang verbindet beide Berge. Wir schwenken immer wieder weit ins Gelände aus, das wie eine Parklandschaft wirkt: Die pâturages boisés, die sogenannten Wytweiden mit ihren Solitärtannen, sind einmalig und nur im Jura zu finden. Endlose Trockensteinmauern fädeln sich zwischen ihnen hindurch.

Auf einsamer Flur südwestlich des Mont Soleil liegt die Auberge Chez L’Assesseur. Als wir eintreten, sieht man uns die Kälte wohl sofort an. «Ein bière chaude wäre jetzt genau das Richtige für euch», schmunzelt die Bedienung. Glühwein war uns ein Begriff, doch heisses Bier? Wir lassen uns gerne überraschen. Apfelstücke schwimmen in dem Heissgetränk, das nach Zimt duftet und einfach göttlich schmeckt. Adrian von Weissenfluh adaptierte die Erfindung von einer Appenzeller Brauerei, auf deren Bier er schwört. Auch sonst scheint der sympathische Wirt ein Händchen für das Besondere zu haben. Im Hof lässt er abends kleine Feuer flackern, die den Henkersbaum in ein geisterhaftes Licht tauchen. Könnte dieser Baum erzählen, würde er vom Assesseur berichten, einem Gerichtsbeisitzer, der hier im 18. Jahrhundert lebte. Die Bauern bezahlten ihn mit Lebensmitteln. Doch was tat der Herr mit all dem Essbaren? Es entstand ein Gastbetrieb. Und dann soll es auch noch spuken. Mitunter öffne oder schliesse sich eine Tür wie von Geisterhand, gehe ein Licht an, höre man Schritte, wenn niemand im Haus sei. Kein Wunder, dass Pächter öfter wechselten und das Haus immer mal wieder eine ganze Weile leer stand. Bis Chesery, ein Gastro-Antiquitätenunternehmen aus Murten, das Anwesen 2013 kaufte. Dementsprechend nostalgisch sind die Räumlichkeiten eingerichtet. Man fühlt sich Jahrhunderte zurückversetzt. Wir speisen köstlich: knusprige Rösti auf dem ein Tomme, ein Frischkäse, zerfliesst, dazu Areilles rouges, Preiselbeeren. Für die Meringues muss auch noch Platz bleiben. Der Renner des Hauses, mit Crème double und einem Schuss Kirsch. Das schreit nach einer ausgiebigen Schneeschuhtour anderntags. Ein jungfräulicher Morgen lässt den Chasseral erstrahlen, den man vom Hof so prächtig sieht. Pferde tollen im Schnee – auch eine Pferdezucht gehört zum Chez L’Assesseur. «Ja, wo Rosse wild weiden, entsteht Urlandschaft, Urwelt und Schöpfung. Darum gehören sie zu den Freibergen wie diese zum Jura.» Wir schliessen uns Siegfried Streichers «Lob der Freiberge» an.


Winterliche Weite: Rund 200 Quadratkilometer umfasst das Plateau.

INFOS

Anfahrt Stündlich Zugverbindung von Basel nach Saignelégier. Mit dem Auto etwa 80 km von Basel über Delémont nach Saignelégier.

Schneeschuhtouren Die Freiberge eignen sich hervorragend für Schneeschuhtouren. Entweder auf eigene Faust oder auf ausgeschilderten Routen. Ein praktisches Faltblatt mit Übersichtskarte liegt in den Tourismusbüros vor Ort aus. Hier eine kleine Zeitorientierung zur vorgestellten Route, es kommt natürlich immer darauf an, welche Spur man sich legt: Chaux d'Abel – Mont Soleil 1,5 Stunden, Mont Soleil – Mont Crosin 2 Stunden. Zwischen der Auberge Chez L'Assesseur und dem Mont Crosin gibt es eine ausgeschilderte Schneeschuhroute, auch zwischen Mont Crosin und Les Breuleux.

Karte Swisstopo 1:50 000, Blatt 232 T, Vallon de St-Imier.

Unterkünfte Hôtel de la Chaux-d'Abel bei La Ferrière, Tel. 032 961 11 52, www.hotellachauxdabel.ch. Ab einer Übernachtung bekommt man im Hôtel de la Chaux-d'Abel den Jura-Pass, der zur kostenlosen Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel innerhalb des Tarifverbundes berechtigt. Auberge Chez L'Assesseur auf dem Mont Soleil, Tel. 032 941 23 60, www.montsoleil.ch.

Grüner Strom Mehr zur Energiegewinnung am Mont Soleil: www.societe-mont-soleil.ch; www.juvent.ch. Es werden auch Führungen angeboten.

Tourismusbüros Jura Tourisme Saignelégier, Tel. 032 420 47 70; Verkehrsverein Berner Jura in St. Imier, Tel. 032 942 39 42, www.juratourisme.ch.

Literatur Das Ketzerweib, Werner Ryser, Cosmos Verlag. Spannender Roman über das Schicksal von Täufern. Die Geschichte spielt im Emmental und Jura.

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