Tourenskischuhe werden immer bequemer, bieten mehr Bewegungsfreiheit und Komfort im Aufstieg. Vorbei die Zeiten, in denen man sich mit schweren, klobigen Tretern jeden Höhenmeter im wahrsten Sinne erkämpfen musste. Selbst eher robust gebaute Freetouring-Modelle sind mittlerweile so lauffreundlich konstruiert, dass der Engländer Mike Humphrey den Tecnica Cochise 130 beim Paris-Marathon im April 2025 zum Laufschuh seiner Wahl erkor. Der Fairness halber sei erwähnt: Humphrey absolvierte seinen sechseinhalbstündigen Lauf nicht als Komfort-Demonstration. Vielmehr wollte er damit Aufmerksamkeit schaffen und Spenden sammeln zugunsten der Erforschung von neurodegenerativen Krankheiten wie ALS.
Grosse Schaftrotation – viel Bewegungsfreiheit
Auch wenn es abwegig erscheinen mag, Skitourenschuhe bei einem Marathon zu zweckentfremden, zeigt das kuriose Beispiel, wie laufstark Skitourenschuhe mittlerweile sind. «Egal, in welcher Kategorie, Skitourenschuhe sind in den letzten Jahren flexibler im Aufstieg geworden, ohne an Stabilität in der Abfahrt einzubüssen», sagt Kevin Nanzer, Schuhexperte bei Bächli Bergsport. «Moderne Skitourenschuhe schaffen eine beeindruckende Balance: maximale Bewegungsfreiheit durch Rotationswinkel bis an die Grenze der anatomisch möglichen Beweglichkeit.» Trotz geringem Gewicht bieten die Skitourenschuhe auf Abfahrten erstaunlich viel Halt und Stabilität. Manche Freetouring-Modelle halten dabei selbst mit sportlichen Alpinskischuhen mit.
Tourenschuh-Klassiker wie der Dynafit Radical boten mit einem Rotationswinkel von bis zu 60 Grad bislang bereits eine gute Beweglichkeit des Schafts. Sie ist gerade bei steilen Anstiegen entscheidend für komfortables und kraftsparendes Gehen. Mit der aktuellen Modellgeneration ermöglichen die Skischuhentwickler Sprunggelenk und Unterschenkel noch mehr Bewegungsfreiheit. Das Allround-Modell Dynafit Ridge und der Scarpa F1 SE erlauben eine grosszügige Schaftrotation von 70 Grad. Der Atomic Backland XTD setzt in dieser Disziplin mit 74 Grad noch einen drauf. Spitzenreiter ist der Allround-Tourer Salomon MTN Summit Pro (Gewicht: 1150 g) mit einer maximalen Schaftrotation von 75 Grad. Damit bietet er ein genauso üppiges Bewegungsspektrum wie die ultraleichten Race-Skitourenschuhe Scarpa Alien oder La Sportiva Race Borg (jeweils 750 Gramm pro Schuh).
Müheloser bergauf – die neue Leichtigkeit
Auch am Gewicht der Skitourenschuhe haben die Hersteller weiter gefeilt. Leichte Allround-Schuhe wiegen in gängigen Mustergrössen um die 1150 bis 1250 g pro Schuh. Spartanische Rekordhalter sind die Wettkampf-Skitourenschuhe La Sportiva Stratos IV mit gerade mal 500 g pro Schuh und der Dynafit DNA Pintech Pierre Gignoux mit entsprechend 510 g. Spürbar erleichtert dürfen sich aber auch abfahrtsorientierte Tourengeher fühlen. Der Atomic Backland XTD bringt als solider Abfahrer 1380 g auf die Waage, der aktuelle Tecnica Zero G Tour Pro gar nur 1290 g. Mit Detailverbesserungen wie leichterem Schaft, etwas dünnerer Schale, neuen Schnallen und Innenschuhen drückten die Designer das Gewicht gegenüber dem Vorgängermodell um 100 g. Auf den ersten Blick mag das nicht nach viel klingen. Doch 100 g weniger am Fuss sind deutlich spürbar. Zudem wirkt sich geringeres Gewicht positiv auf die Schrittfrequenz, Balance und Trittsicherheit aus – gerade bei langen Touren und in anspruchsvollem Gelände.
1) 75°
Schaftrotation
weisen aktuelle Topmodelle
auf. Ein
hoher Winkel erleichtert
den Aufstieg,
vor allem bei
langen Schritten.
2) Verschlusssache: Ein Trend der letzten Jahre,
vor allem bei aufstiegsorientierten
Schuhen, ist der BOA-Drehknopf
zur Feineinstellung des Halts
am Vorfuss.
3) Der Trick mit dem Abstand: Eine Methode, um die richtige
Grösse zu finden: Mit dünnen
Skisocken in die Schale ohne Innenschuh
steigen. Sind die Zehen
ganz vorne, sollten zwischen
Ferse und Schale noch 1,5 bis
2 cm Platz sein.
Komfortable Bedienung – der BOA-Dreh
Bequemlichkeit ist nicht nur beim Aufstieg gefragt. Auch der Bedienkomfort rückt mehr und mehr in den Fokus der Hersteller. Dank des beweglichen Schafts schlüpft man in Tourenskischuhe leichter rein und raus als in Alpin-Skischuhe. Und auch das Verschliessen und Anpassen des Drucks der Schale auf den Fuss wird nun komfortabler und funktioniert schneller. Clevere Verschluss-Systeme machen es möglich. Immer häufiger kommt das BOA-Drehverschluss-System zum Einsatz. «BOA hat seinen Platz gefunden, vor allem im Komfortbereich. Aber es ersetzt die Schnalle nicht komplett», sagt Kevin Nanzer. Entscheidend sind die Positionierung der Umlenkungen des Seilzugsystems und die Beschaffenheit der Skischuhschale.
«Es ist wenig sinnvoll, Schnallen einfach durch ein BOA-System zu ersetzen», sagt Christophe Zufferey von K2 Schweiz, «denn die Verteilung der Kräfte durch das Seilzugsystem ist anders als bei Schnallen.» Es komme darauf an, auch die Schale darauf abzustimmen. Bei den aktuellen Mindbender Freetouring-Schuhen hat K2 die Überlappung der Schale über dem Ristbereich mit drei unterschiedlichen Härtezonen neu konstruiert. Auch die Zehenbox wurde geändert. «So lässt sich die Schale mit dem BOA-System anpassen wie ein Burrito in der Hand», vergleicht Zufferey.
Für eine möglichst gut abgestimmte Kraftverteilung beim Schliessen verwenden viele Hersteller zwei getrennte BOA-Seilzugsysteme: eines am Schaft und eines im unteren Bereich der Schale. Scarpa setzt beim F1 SE auf ein Hybrid-System mit Schnalle und Klettverschluss am Schaft sowie BOA-System über dem Rist. Ähnlich macht es Dynafit beim Ridge Pro. «BOA ist nicht generell besser oder schlechter als Schnallenlösungen», meint Kevin Nanzer. «Es kommt immer auf die individuelle Position und Druckverteilung an.» Den aktuellen Trend hin zu BOA-Modellen erklärt Nanzer so: «Die Bedienung ist schon sehr komfortabel. Reinschlüpfen, drehen, fertig! Das geht schnell und ist kinderleicht.»
Innenschuhe und Innensohlen – individuelle Anpassung
Ein weiteres Komfort-Feature, das mittlerweile beinahe jeder Skitourenschuh bietet, sind thermoformbare Innenschuhe. Der Innenschuh wird erwärmt und lässt sich so individuell an die Fussform anpassen – wenn nötig mehrmals. Das verbessert den Halt spürbar. Zusätzlich entscheidend ist laut Nanzer die Innensohle. «Die Originalsohlen unterstützen das Fussgewölbe kaum», sagt er und empfiehlt daher, unabhängig vom Schuhmodell, die serienmässige, relativ dünne und wenig stabile Innensohle durch eine individuell anpassbare Sohle zu ersetzen. «Die gibt dem Fuss mehr Halt, verhindert Blasen, Krämpfe und vorzeitige Ermüdung der Muskulatur. Ausserdem verbessert sie die Kraftübertragung.» Selbst kleine Anpassungen bewirken da grosse Unterschiede.
Wenn es um die Passform geht, kommen auch spezielle Damen-Modelle ins Spiel, die jeder Hersteller neben den Unisex- bzw. Herrenmodellen anbietet. Der Unterschied liegt im Detail: Frauenmodelle sind tiefer geschnitten, um dem tieferen Wadenansatz gerecht zu werden. Die Skischuhschale ist oft etwas weicher, der Leisten etwas schmaler. «Für viele Frauen lohnt es sich, entsprechende Damenmodelle zu probieren», weiss Nanzer aus Erfahrung. «Trotzdem dürfen Damen gerne auch passende Herrengrössen ausprobieren», ergänzt er. «Denn letztlich entscheidet die individuelle Fussform.»
Materialtrends – Nachhaltigkeit im Fokus
Die Materialien moderner Skitourenschuhe beeinflussen längst nicht nur das Gewicht. Auch in puncto Nachhaltigkeit spielen sie eine entscheidende Rolle. «Mittlerweile gibt es Skischuhe aus dem Kunststoff Pebax® Rnew®, der zu einem Grossteil aus Rizinusöl gewonnen wird», erklärt Nanzer. Dieses biobasierte Material ersetzt zunehmend erdölbasierte Kunststoffe. Auch Recycling und Upcycling spielen eine Rolle. Salomon etwa schreddert alte Skischuhe und verwendet das Material für neue Skischuhe oder im Skibau. Für den Käufer heisst das: Nachhaltige Materialien haben in puncto Performance längst gleichgezogen mit konventionell hergestellten Teilen. Tecnica macht sich mit seinem «Recycle Your Boots»-Projekt auf den Weg Richtung Kreislaufwirtschaft: QR-Codes am Produkt geben nach Ende des ersten Lebenszyklus dem Sortierpartner wichtige Informationen zur Materialbeschaffung und Recycling-Fähigkeit jedes einzelnen Bestandteils.
Fazit: Mehr Komfort – bessere Performance
Die Entwicklung der Skitourenschuhe geht in allen Kategorien klar in Richtung mehr Komfort und Individualität, ohne dabei die sportliche Performance zu vernachlässigen. Auf Abfahrten muss sich mancher Freetouring-Schuh nicht mehr vor den sportlichen Qualitäten von Alpin-Skischuhen verstecken. Kompatible Sohlen und Bindungen vorausgesetzt (siehe «Tourenschuh-Tipps»), eignen sie sich für beide Bereiche. Aber auch Allround-Tourenschuhe sowie Light-Modelle für lange Hochtouren mit vielen Höhenmetern und für Skitourenrennen bieten mittlerweile einen sehr guten Kompromiss aus Abfahrts- und Aufstiegsqualitäten. Bergauf werden Skitourenschuhe immer mehr zu «Laufschuhen», die viel Bewegungsspielraum bieten. Eine tolle Sache – auch wenn man damit nicht gleich einen Marathon läuft.
Das Wichtigste in Kürze
- Skitourenschuhe werden immer leichter und beweglicher: In gängigen Mustergrössen wiegen Allround-Schuhe ca. 1200 g pro Schuh. Die Schaftrotation reicht inzwischen bis zu 75 Grad.
- Drehverschlüsse mit Seilzugsystem sind auf dem Vormarsch, ersetzen die klassische Schnalle aber noch nicht ganz.
- Wer die dünne Standard-Einlegesohle durch eine individuell anpassbare Sohle ersetzt, kann Komfort und Kraftübertragung steigern.
Tipps zum Kauf von Tourenskischuhen
In acht Schritten zur besseren Passform
- Zeit nehmen: Sorgfältige Anprobe, Modell und Grössenwahl erfordern Zeit. Die sollten Sie sich unbedingt nehmen, um Probleme später auf Tour zu vermeiden.
- Schuhkategorie:
Überlegen Sie vorab, für welchen Einsatzbereich Sie die Skitourenschuhe verwenden wollen. Wie ist Ihr Können? Wie lange und anspruchsvoll sind Ihre Touren?
- Grössenwahl: Wichtigste Voraussetzung: die richtige Schalengrösse. Viele Tourengeher machen den Fehler, die Schuhe zu gross zu kaufen, weil sie bequem sind. Unbedingt beachten: Das Innenschuhmaterial gibt nach einigen Touren etwas nach, dadurch wird der Schuh etwas grösser. Zum Check der Schalengrösse mit dünnen Skisocken in die Schale ohne Innenschuh steigen. Fuss ganz nach vorne rücken. Abstand zwischen Ferse und Schalenrückwand sollte 1,5 bis zwei Zentimeter betragen. Beim Passform-Check mit Innenschuh sollten die Schuhe satt sitzen, ohne zu drücken. Im aufrechten Stand dürfen die Zehen vorne ganz leicht anstossen. Wichtig: guter Fersenhalt.
- Individuelle Anpassung:
Eine individuell anpassbare Innensohle gibt mehr Halt und spart Kraft. Auch der thermoformbare Innenschuh sollte auf jeden Fall angepasst werden.
- Sockenwahl: Dünne Socken sorgen für besseren Kontakt und bessere Kraftübertragung. Zudem leiten funktionelle Skisocken Feuchtigkeit effizient ab und helfen, Blasen zu vermeiden.
- Testtour:
Nach dem Kauf eine Testtour einplanen und die Anpassung gegebenenfalls nachjustieren.
- Kompatibilität:
Die Sohlen von Skitourenschuhen sind nicht genormt. Deshalb passt nicht jeder Skitourenschuh zu jeder Bindung. Auch beim Einsatz von Skitourenschuhen mit Alpin-Bindungen kann es zu Funktionsstörungen kommen. Die Experten von Bächli Bergsport wissen, welcher Schuh verlässlich zu welchen Bindungsmodellen passt.
- Bootfitting:
Bei Skitourenschuhen ist eine gute Passform essenziell wichtig. Sonst drohen Blasen und Fussbeschwerden. Deshalb bietet Bächli Bergsport in jeder Filiale die Möglichkeit eines individuellen Bootfittings – am besten mit Termin.

Faszination Flex
Welche Rolle die Steifigkeit von Schuhen auf Skitour spielt und warum Flexwerte nicht zwingend vergleichbar sind.
Über kaum einen Aspekt bei Tourenskischuhen wird kontroverser diskutiert als über die Steifigkeit, den sogenannten Flex. Nicht ohne Grund: Studien haben gezeigt, dass das Flex-Verhalten einen klar spürbaren Einfluss auf die Skifahrtechnik hat. Ein Skischuh übernimmt im Zusammenspiel mit Bein, Fuss und Ski ähnliche Funktionen wie eine Federgabel bei Mountainbikes. Er übernimmt die Aufgaben eines Stossdämpfers und ist wichtig für die Steuerung.
Der Flex ist, vereinfacht ausgedrückt, die Steifigkeit, die der Skischuh dem Unterschenkel entgegensetzt, wenn er beim Abfahren nach vorne (oder beim Aufkanten seitlich) gegen den Schaft drückt. Eine härtere Schale leitet Bewegungsimpulse vom Fuss direkter und schneller an den Ski weiter. Im Schaft sollte jeder Schuh nach vorne etwas nachgeben. Dieser Flex ist wichtig, um das Sprunggelenk in der Schwungsteuerung beugen zu können.
Der Flex sollte progressiv sein, sprich: Je weiter das Schienbein Schaft und Zunge nach vorne drückt, desto mehr Widerstand sollte der Schuh bieten. Bei zu weichen Schuhmodellen wären zum Beispiel bei starken Kompressionen und Landungen nach Sprüngen Fussverletzungen nicht ausgeschlossen. Ein ausreichend straffer Flex bedeutet also auch eine Schutzfunktion des Sprunggelenks und der damit verbundenen Bänder, Sehnen und Muskeln.
Für sportlich aggressive Fahrweise sowie schwere Personen sind grundsätzlich stabiler gebaute Schuhe mit höheren Flex-Werten sinnvoll (Flex 120/130). Die Flex-Werte sind nicht genormt und daher nicht direkt vergleichbar. Sie stellen lediglich grobe Richtwerte dar, und ändern sich auch spürbar mit der Aussentemperatur, denn bei tiefen Temperaturen verhärten Schuhe.