«Wow!» Mehr als diese drei Buchstaben mag und muss Luggi gar nicht sagen. Den Rest erzählt die weite Berglandschaft um ihn herum. Als er nach dem Aufstieg zum Grat der Cima di Cardan die Felle abzieht und sich für die erste Pulverabfahrt startklar macht, weiss Luggi: Die drei geplanten Tourentage werden nicht annähernd reichen, um das Potenzial dieses Tourengebiets auch nur anzukratzen. Um ihn herum tun sich endlose Möglichkeiten auf. Piz Ursera, Piz Paradisin, Corn da Camp, Piz Cunfin, Motal, Piz dal Teo und, und, und. Die Namen der umliegenden Gipfel sind längst nicht so bekannt wie die Klassiker Piz Palü, Biancograt und Piz Bernina, die westlich des Berninapasses wie weisse Schaumkronen im Gipfelmeer grüssen. Doch während diese Ikonen wenig Überraschungen bereithalten, führen weniger prominente Routen oft zu den weitaus imponierenderen Entdeckungen.
Lass es stauben: Dank
vielfältiger Hangausrichtungen
findet sich fast immer eine
Abfahrt mit Pulverschnee.
In diesem Fall führt der Weg durch das Val da Camp. Es schneit in dichten Flocken, als Luggi und Florian den Parkplatz in Sfazù zwischen Berninapass und Poschiavo verlassen. Die Welt liegt im Dunkeln, nur die Lichtkegel der Stirnlampen werfen punktuell einen flackernden Schein auf den verschneiten Waldweg. Der Neuschnee dämpft jedes Geräusch. Der Atem dampft. Im Takt der Aufstiegsschritte verschwimmt das Zeitgefühl. Nach gut einer Stunde (oder waren es doch zwei?) öffnet sich der Wald. Eine Lichtung. Inmitten der weissen Stille die goldgelb erleuchteten Fenster der Saoseohütte. «Gerade noch rechtzeitig zum Nachtessen», witzelt Hüttenwirt Gigi Murtas zur Begrüssung. Er wirft einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. «Die schnellsten Läufer absolvieren die Strecke vom Parkplatz in Sfazù zur Hütte beim allwinterlichen Nacht-Skitourenrennen ‚Sprint Val di Campo‘ in 22 Minuten», sagt er und ergänzt augenzwinkernd: «Ich vermute, ihr liegt knapp darüber!»
Der Zeit voraus statt hinterher
Wenig später tischt Gigi dampfende Suppe auf. «Hier, in der Stube der Hütte, war einst der Kuhstall», erzählt er. Das Rifugio Saoseo hiess «Casa Lugacqua» (Haus entlang des Wassers), als es 1935 als Alp für einen Viehbestand von 18 Kühen erbaut wurde. Doch schon bald, Ende der 1930er-Jahre, mietete der SAC einen Teil des Hauses für seine Mitglieder. Mittlerweile gehört die Hütte längst dem SAC und ist seit dem Umbau 1996 ein attraktives Basislager, auch für Skitourengeher. Das Rifugio Saoseo liegt nicht weit vom Oberengadin entfernt, das mondäne St. Moritz und das schicke Pontresina gleich hinterm Berg. Doch die Welt südlich des Berninapasses ist eine andere als nördlich des Übergangs. Eine ruhigere, eine bescheidenere. «Hier ticken die Uhren anders», weiss Gigi. Das Valposchiavo mag auf den ersten Blick wirken wie aus einer vergangenen Zeit. «Aber in Wirklichkeit sind die Puschlaver Lichtjahre voraus», kontert der Wirt listig. Konkret meint er damit die konsequente Orientierung des Tals auf eine nachhaltige Lebensweise und nachhaltigen Tourismus.

Energie für die nächste Tour:
Wirt Gigi tischt Puschlaver
Pizzoccheri auf.
«Alles lokale Zutaten», sagt Gigi, als er am nächsten Tag nach der Tour zur Cima di Cardan (am Südgrat zum Piz Ursera) eine riesige Pfanne Puschlaver Pizzoccheri mit Käse, Kartoffeln und Gemüse auf der Hüttenterrasse serviert. Genau das Richtige. Denn nach der Tour ist vor der Tour. Noch steht die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel, und so tanken Luggi und Florian Energie für eine zweite Route am Nachmittag zu den Hängen östlich der Hütte unter der Punta dal Dügüral. «Perfekt», grinst Florian beim Aufstieg. Der schattseitige lichte Lärchenwald hat hüfttiefen Pulverschnee konserviert. Das Gebiet bietet sich auch an Schlechtwettertagen mit White Out in den Hochlagen für kleinere Touren an, genauso wie die Tour zum benachbarten Motal (2517 m).
Gut gemeinte Standpauke
Nach der Powder-Orgie wartet abends die nächste Delikatesse auf der Hütte. Gigis Frau Chatrina hat Polenta zubereitet. Aufgetischt wird sie mit zartem Gulasch. Die Küche des Valposchiavo ist ein kulinarisches Spiegelbild seiner geografischen Lage: eingebettet zwischen Engadin und Veltlin, verbindet sie alpine Bodenständigkeit mit mediterraner Raffinesse. Hier trifft Polenta auf Bergkäse, frische Pasta auf Wildgerichte, und selbst gebackenes Roggenbrot auf getrocknete Birnen oder Kastanien. Regional hergestellte und verarbeitete Produkte sind dem Hüttenwirtspaar wichtig. Damit sind sie in der Gegend nicht allein. Die Bewegung «100 % Valposchiavo» bringt Produzenten, Gastwirte und Konsumenten zusammen und schafft eine lokale Wertschöpfungskette.
Ein Leckerbissen ganz anderer Art steht am nächsten Tag auf dem Programm. Hütte und Tal liegen noch im Schatten, als Florian und Luggi in der Morgendämmerung zum Piz Cunfin (2904 m) aufbrechen. Ein eisiger Wind fegt oberhalb der Waldgrenze über die weiten Hänge. Wird das Wetter halten? Der Wetterbericht hat für den Nachmittag einen kurzen Wetterumschwung angekündigt. Mächtige Lawinenkegel an nord- und ostseitigen Bergflanken wecken Gedanken an die Anekdote, die Gigi am Abend zuvor erzählt hatte: Trotz extremer Lawinengefahr und seiner eindringlichen Warnung war eine Vierergruppe junger Skifahrer am Hausberg Piz Mürasciola bis über die Waldgrenze aufgestiegen. Dort bauten sie einen Kicker und machten Fotos. Gigi beobachtete sie von der Hütte aus mit dem Fernglas. «Als sie zurückkamen, hab‘ ich sie verbal an den Ohren gezogen und ermahnt, dass das wirklich keine gute Idee gewesen sei.» Während der Standpauke sei der ganze Hang, auf dem sie den Kicker gebaut hatten, als Lawine abgegangen. «Die Jungs sind noch drei Tage bei uns geblieben. Auf Tour gingen sie aber nicht mehr. Sie halfen uns, um die Hütte herum die Wege auszuschaufeln», erinnert sich der Wirt.

Gratwanderung: auf dem
Weg zur La Pala, dem Nachbargipfel
des Piz Paradisin
(3303 m)
Vom Bildschirm in die Berge
Florian und Luggi dagegen sind Schnee und Wetter gewogen. Welch eine Wohltat, als auf der Hochebene Plan da la Genzana die Sonne endlich ihre ersten Strahlen über den Grat schickt. Als hätte jemand einen unsichtbaren Schalter umgelegt, stoppt Minuten später auch der Wind. So lässt sich die Tour endlich geniessen. Einmal mehr bietet der südseitige Aufstieg zum Piz Cunfin grandiose Ausblicke auf wilde Rinnen – diesmal in die Nordflanken des Corno di Dosse (3232 m). Das Wetter hält. Südseitig hat sich der Neuschnee der vergangenen Tage nun gut gesetzt. «Perfekter Firn», meint Luggi nach einem kurzen Test. Und so geht’s rasant, aber wie auf Samt, die steile Südflanke des Piz Cunfin hinab.
Eine gute Stunde später tischt Gigi Murtas die nächste Portion Pizzoccheri auf. Wenn man ihm zuhört, wird schnell klar: Das Rifugio Saoseo ist mehr als nur eine Berghütte – es ist ein Stück Lebensphilosophie. Seit 2020 führt der ehemalige Verkaufsleiter gemeinsam mit seiner Frau Chatrina das 1985 Meter hoch gelegene Rifugio. Der Schritt in die Berge war ein bewusster Bruch mit der früheren Karriere: Beide hatten genug von Bildschirmarbeit, Formularen und dem Funktionieren im System. Stattdessen wollten sie etwas Sinnstiftendes – mit und für Menschen, nah an der Natur. Als sich die Gelegenheit bot, die Hütte zu übernehmen, zögerten sie nicht lange. Trotzdem war die Umstellung enorm. Privatsphäre existiert für Chatrina und Gigi auf der Hütte kaum – ihr eigenes Reich umfasst ein kleines Schlafzimmer, zwei, drei Schränke für Bekleidung und ein paar Habseligkeiten, eine Dusche und ein winziges Büro. Fernsehabende gibt es nicht, Freizeit während der Saison kaum. Tourengehen, einst leidenschaftliches Hobby des Paares, ist nun Luxus – selbst im tiefsten Winter bleibt selten Zeit für eigene Ausflüge. Und doch: Gigi und Chatrina bereuen den Schritt nicht. «Wir sind unsere eigenen Chefs. Wir bestimmen selbst, wie wir arbeiten und was wir den Gästen bieten wollen.» Gigis Anspruch an Authentizität ist Basis seiner Philosophie als Hüttenwirt. Die Hütte soll Hütte bleiben. Kein Hotel, sie soll nicht zum Wellness-Betrieb mutieren. Das spiegeln auch die einfachen und trotzdem gemütlichen Mehrbettzimmer und Matratzenlager wider.
Firn-Paradies am Paradisin
Der Mond steht noch am kalten Morgenhimmel, als Luggi und Florian zur nächsten Tour aufbrechen. Rau schrappen die Tourenfelle über den gefrorenen Harsch. Nach einem gemütlichen Start steilt sich der Aufstieg zum Gletscher Vedreit da Camp auf, entpuppt sich als anspruchsvolles Spitzkehrentraining im brüchigen Schnee. Der Aufstieg zum Piz Paradisin (3303 m) hat es in sich. Kurze Verschnaufpause am Ende der Steilstufe. Weiter! Auch wenn der Gipfel lockt, verzichten Florian und Luggi auf die finale felsige Kletterei. «Wäre schön, aber kostet uns viel Zeit, wenn wir die Südostrinne unter dem Nachbargipfel La Pala noch bei guten und sicheren Verhältnissen schaffen wollen», meint Luggi. Seine Erfahrung als Bergführer macht sich bezahlt. Ab dem Einstieg in die Rinne warten 1000 Tiefenmeter feiner Firn, hinab zum Lagh da Saoseo. Jetzt im Winter liegt der See unter einer dicken Schneedecke. Im Sommer gilt er mit seinem klaren, türkisfarbenen Wasser, den leuchtenden Lärchen und felsigen Gipfeln rundherum als einer der schönsten Bergseen der Schweiz. Entsprechend viele Wanderer pilgern vom Rifugio hinauf zum See.
Doch für Luggi und Florian liegt der Reiz gerade in der ruhigen Jahreszeit. Im Winter. In der Stille. Selbst wenn die Hütte ausgebucht ist, warten mehr als genug Möglichkeiten, eigene Spuren zu ziehen. «Es gibt noch so viel zu tun», sagt Luggi mit Wehmut in der Stimme, als seine Ski auf dem Rückweg nach Sfazù ein letztes Mal den Firn spritzen lassen. Als er die Ski abschnallt, liegt eine grosse Gewissheit in seiner Stimme: «Ich komm‘ wieder, keine Frage!»
Qual der Wahl: Die zahlreichen
Touren rund um
das Rifugio Saoseo sind
enorm vielseitig. Neben
vielen hochalpinen Routen
gibt es auch Routen
durch windgeschützte
Lärchenwälder.
Weitere Informationen
Das Rifugio Saoseo liegt in der Nähe des gleichnamigen Sees mit ein paar anderen Alpgebäuden auf 1985 Meter Höhe im Val di Campo, eingebettet in die ursprüngliche Berglandschaft zwischen Berninapass und Poschiavo. Mit seiner guten Erreichbarkeit und den umgebenden Dreitausendern eignet es sich hervorragend als Ausgangspunkt für Skitouren. Die Anzahl der Tourenmöglichkeiten ist enorm. Unterschiedlichste Expositionen machen es leicht, dem Wetter und Schneeverhältnissen angepasste Routen zu finden. Die Hütte verfügt über 80 Schlafplätze (Mehrbettzimmer und Matratzenlager). Öffnungszeiten im Winter: Weihnachten bis Neujahr, Anfang Februar bis Ende April.
Anreise
Von Poschiavo bzw. Pontresina Richtung Berninapass nach Sfazù (Haltestelle Postauto und Rhätische Bahn). Kostenpflichtiger Parkplatz in Sfazù. Von Sfazù Aufstieg auf meist schneebedeckter Schotterstrasse zum Rifugio Saoseo. Aufstiegszeit: ca. 1 ¼ Stunden.
Allgemeine Infos
Hütte: saoseo.ch
Region: valposchiavo.ch
Beste Jahreszeit
Februar bis Ende April
Bergführer
Periono Giuliani, Li Curt bei Poschiavo, pierinoguiliani.ch
Medien
SAC Skitourenführer, Graubünden Süd, SAC Verlag;
Swisstopo Skitourenkarte 469 S Val Poschiavo 1:50.000
Touren-Tipps
Piz Paradisin (3302 m)
Der Paradegipfel ist die höchste Erhebung in der Region. Der Schlussanstieg vom Skidepot über den felsigen Grat erfordert etwas Zeit und alpinistisches Können.
- Höhenmeter: 1320 hm rauf/1320 hm runter
- Schwierigkeit: schwer (S)
- Kondition: hoch
Motal (2517 m)
Genusstour mit guten Chancen auf Pulver dank nordseitiger Ausrichtung und windgeschütztem, lichtem Hochwald im unteren Bereich. Eignet sich als Halbtagestour.
- Höhenmeter: 600 hm rauf/600 hm runter
- Schwierigkeit: leicht bis mittel (WS)
- Kondition: mittel
Piz Cunfin (2904 m)
Die Tour führt an die italienische Grenze mit grandiosen Blicken über die Livigno Alpen vom Gipfel des Piz Cunfin. Je nach Schneelage bietet der Gipfel drei Abfahrtsmöglichkeiten: über die steilen Nord- und Südwestflanken oder über die gemässigtere Ostseite.
- Höhenmeter: 920 hm rauf/920 hm runter
- Schwierigkeit: mittel bis schwer (je nach Variante) (WS bis ZS)
- Kondition: mittel
Piz Ursera (3006 m)
Toller Aussichtsgipfel mit beeindruckenden Blicken auf die Bernina-Gruppe mit mehreren Abfahrtsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur Überschreitung nach Livigno (über Val di Campo oder Val dell Orsera/Forcola die Livigno)
- Höhenmeter: 1036 hm rauf/1036 hm runter
- Schwierigkeit: leicht (WS)
- Kondition: mittel