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Zerbrechliche Welten: Wegweiser Mürren-Kandersteg

Iris Kürschner, Donnerstag, 25. März 2021

Kaum ein Weitwanderweg in den Berner Alpen stillt die Sehnsucht nach grosser Natur so eindrucksvoll und abwechslungsreich wie der Bärentrek. Besonders der Abschnitt zwischen Mürren und Kandersteg ist voller Kontraste – und Überraschungen.

Kaum ein Weitwanderweg in den Berner Alpen stillt die Sehnsucht nach grosser Natur so eindrucksvoll und abwechslungsreich wie der Bärentrek. Besonders der Abschnitt zwischen Mürren und Kandersteg ist voller Kontraste – und Überraschungen.

Dohlenschreie hallen von den Wänden wider. Wände, deren Ende man nicht sehen kann, weil sie im Nebel stecken. Aber man erahnt, dass es weit sein muss, ehe sie aufhören. Manchmal lockert sich der Nebel und man sieht tiefer hinunter oder höher hinauf, aber nie bis zum Ende. Ab und zu dringt auch die Sonne durch, huscht als gleissende Scheibe durch die Wetterküche, um dann gleich wieder zu verschwinden. Gespenstisch, vor allem, wenn sich die Wanderpartnerin nur wenige Meter vor einem auflöst. Mystiker hätten ihre wahre Freude an den ständigen Veränderungen von Stimmung und Atmosphäre.

Es ist Vormittag, es könnte aber genauso gut Nachmittag sein. Mit diesem Wetter ist man zeitlos unterwegs. Aber das wollten wir ja, Tine und ich auf dem Weg von Mürren nach Kandersteg. Wir setzen uns nicht unter Druck, nur um später vielleicht stolz sagen zu können, dass wir in so und so viel Stunden von A nach B gekommen sind und unzählige Gipfel mitgenommen haben. Stattdessen trödeln wir und nehmen die Natur in vollen Zügen auf. Frei sein von allem – wie gut das tut, vor allem in jetzigen Zeiten. Vier Tage Auszeit wollen wir uns gönnen, auch wenn man die Strecke in zwei Tagen zurücklegen könnte. Aber drei feine Hütten liegen am Weg – warum das nicht auskosten, zumal sie mit umwerfender Lage auftrumpfen?


Durch die Hintere Gasse

Die Strecke von Mürren nach Kandersteg folgt der Via Alpina und zugleich dem Bärentrek. Eine Route, die auch als Hintere Gasse bekannt ist – ein Acht-Tages-Trek von Ost nach West quer durch die gewaltige Bergwelt des Berner Oberlandes, immer an der Grenze von grünen Alpen zu mächtigen Viertausendern, hautnah an Gletschern und monumentalem Urgestein entlang. Mit dem Abschnitt zwischen Mürren und Kandersteg haben wir uns einen besonders spektakulären herausgepickt.


«Wahnsinn», bricht es aus Tine heraus, als sie auf einen Felsen steigt. Sie fühlt die Dramatik der Natur und kommt sich frei wie ein Vogel vor. Auf der eng gegenüberliegenden Talseite kleben die Gletscher – wir hören es immer wieder poltern. Gestartet sind wir gestern bei guten Wetterprognosen. Doch der Föhn drückt stärker als erwartet Wolkenpakete über die Gebirgskämme. Über die saftigen Matten der Spielbodenalp ging's zur Rotstockhütte. Ein traumhafter Höhenweg mit viel Panorama und abwechslungsreicher als die Route von Gimmelwald durch das Sefinental zur Hütte hinauf. Mächtig wachsen die Bütlasse und das Gspaltenhorn in den Himmel, während man mehr oder weniger entlang der Höhenlinie dem Etappenziel entgegenschlendert. Ganz entspannt und vergleichsweise einsam – denn der Weg ist nicht einmal für Mountainbiker freigegeben. Die Rotstockhütte wirkt wie aus Pionierszeiten: Steingemäuer, Holzstube, die Lager eng an eng. Doch der Skiclub Stechelberg hat in seine 1946 erbaute Privathütte durchaus investiert: So steht jetzt nebenan eine kleine VIP-Lodge. «Vogelhiisi» nennt Hüttenwart Simon sie schmunzelnd. Darin steht ein Doppelbett mit Tisch und Ofen, es duftet nach Lärchenholz. Wer diese exquisite Übernachtungsform bucht, darf sich morgens auf ein üppiges Frühstück mit Speck und Eiern freuen, serviert ans Fenster der «Suite» mit dem Prachtblick auf Eiger, Mönch und Jungfrau.


Der Blick auf das Gipfeltrio würde uns auch zur Sefinenfurgge begleiten, wären da nicht die Wolken. Wir queren nach Süden und erreichen in der Nähe des Hundshubel den 2611 Meter hohen Übergang. «Vielleicht heisst er Hundshubel, weil das rutschige Schiefergelände ziemlich mühsam ist», meint Tine, und freut sich über die Leiter, die den Steilhang entschärft. Auf der anderen Seite der Sefinenfurgge setzt sich die Leiter fort – nun in die Tiefe des Kientals. Wir bleiben jedoch auf der Höhe und schwenken in den Pfad zur Gspaltenhornhütte, der in die Gamchi eindringt. Ein weltabgeschiedenes Tal, in welchem die zerrissenen Gletscher des Blüemlisalpmassivs und der Gamchilücke hängen. Der Gletscher am Gspaltenhorn, unter dem die Gspaltenhornhütte liegt, hat sich hingegen schon weit zurückgezogen. Trotz Anbau erkennt man sie in der felsigen Umgebung kaum. Der neue Anbau schmiegt sich perfekt in die Landschaft ein und ersetzt das dunkle, feuchte Schlaflager von einst. Nun kann zwischen hellen, kleinen Zimmern gewählt werden. Aus der Küche duftet es schon. Köstliche Lasagne wird uns später von Marianne aufgetischt. Die Züri-Oberländerin hat lange im Wallis gelebt, Köchin gelernt und werkt nun in ihrem Element. Ihr Partner Michael Zbären, seit 2019 der Hüttenwart, setzt sich hinzu und erzählt, wie sie mit einer von der Sektion organisierten Hüttenversorgungswanderung in die Saison starten. Eine tolle Sache. Jeder könne da mitmachen und einmal herausfinden, was es bedeutet, wenn keine Lebensmittel heraufgeflogen werden können. Mit dieser Aktion spare man immerhin einen Versorgungsflug, in der Regel brauche es den Heli einmal pro Woche. Abgesehen davon sei die Hütte aber energieautark, 100 Prozent Solar. Nur mit dem Wasser hätte man so seine Mühe, es kommt vom Gletscher, und da fragt man sich, wie lange noch?


Die Welt im Wandel

Die Klimaerwärmung sieht man nicht nur am Abschmelzen der Gletscher, sie nimmt auch den Permafrost, der die Gesteine zusammenkittet. «Wöchentlich», sagt Marianne, «ändern sich die Wege durch Abrutschungen und reissende Bäche, die Brücken fortschwemmen. Auch unser Hüttenteam muss dann oft anpacken». Was sie damit meint, zeigt sich auf dem Abschnitt durch die Reste des Gamchigletschers zur Bettstatt, den wir anderntags durchwandern. Eine Landschaft in «Schutt und Asche» kommt einem in den Sinn – faszinierend und erschreckend zugleich. Von der Bettstatt gäbe es die Möglichkeit, der Bundalp einen Besuch abzustatten, feinen Alpkäse zu degustieren oder für's Picknick mitzunehmen. Allerdings würde dieser Abstecher 200 Höhenmeter kosten, im Ab- und Aufstieg. Tine ist also für die Direttissima zur Blüemlisalphütte. Steil führt die Route zum Hohtürli hinauf, mit 2778 Metern der höchste Übergang auf dem Bärentrek.


Wie schon an der Sefinenfurgge erleichtert eine Leiter den Durchstieg des instabilen Hanges. Nur fünf Minuten oberhalb thront die Blüemlisalphütte. Schon mittags hatte es aufgeklart und die Welt strahlt in den reinsten Farben. Deshalb und weil es auch Zeit und Kondition zulassen, steigen wir noch weiter. Was früher nur den Alpinisten vorbehalten war, lässt die Gletscherschmelze längst zu. Hüttenwart Hans Hostettler gibt uns den Tipp, den Steinmännchen südöstlich zu folgen. Sie leiten zu einer Kuppe, die eisfrei bestiegen werden kann, man aber dennoch gefühlt inmitten dieser imposanten Eiswelt steht. Morgenhorn, Wyssi Frau und Blüemlisalphorn, die drei Gletscherthrone, bauen sich direkt vor uns auf. Ihre Überschreitung wird als die schönste alpinistische Unternehmung der Berner Alpen gefeiert. Wir beobachten eine Seilschaft – kleine Punkte, die in diesem mächtigen Rahmen umso zerbrechlicher wirken. Zumindest fühlen wir uns so. Wir stehen direkt unter den Felstürmen der Wildi Frau, zu Füssen stürzt die Welt in ein Loch. Was für ein schwindelerregender Abbruch. Zerrissene Seracs wälzen sich ins Gamchi, das wir vor ein paar Stunden noch durchquert hatten. Auf dem Rückweg bemerken wir ein merkwürdiges Feld oberhalb der Blüemlisalphütte. Ein Wasseracker, könnte man auch sagen. Über eine 500 Quadratmeter grosse, schwarze Blache wird Schmelz- und Regenwasser gesammelt und über Schläuche ins Versorgungssystem eingeleitet.

Immer stärker werden Hildi und Hans Hostettler, die seit 2008 die Hütte bewirtschaften, mit Wassersorgen konfrontiert. Auch hier gibt es keine Quelle, nur Gletscherwasser. Hauptzufluss war bisher der Gletscher der Wildi Frau, doch der existiert fast nicht mehr. Erfinderisch muss man dann sein. Wenn die Wassertanks, die insgesamt 35'000 Liter fassen, nicht mehr reichen, kommt eine tiefer gelegene Tonne zum Einsatz, von der Hans das Wasser dann hochpumpt. Der Aufwand ist gross. Doch die Notwendigkeit des Wassersparens ist bei manchen Gästen schnell vergessen. Besonders, wenn man nach dem Abendessen zum Sonnenuntergang vor die Tür tritt und in die noch immer eisige Pracht der Blüemlisalp blickt. Rot glühen sie im letzten Sonnenlicht, gewaltige Hängegletscher, die einst blumenreiche Wiesen zuschütteten, so weiss es die Sage. Fast immer ist es ein ruchloser Senn, der in Verschwendung und Unehrlichkeit lebt, bis sein «Müetti» einen Fluch ausspricht. Solche Blüemlisalpsagen finden sich überall in den Alpen. Den Inhalt sollten sich mehr Menschen zu Herzen nehmen, meint Tine und verliert sich in der Schönheit des Ausblicks. Der Sonnenballen versinkt in einem Schattenriss an Gebirgsketten. Genauso traumhaft ist der Weg am nächsten Tag hinunter zum Oeschinensee, der wie eine türkisfarbene Perle wohlgeborgen in einem Amphitheater aus Steilwänden liegt, als würden die Geister der Blüemlisalp ihre Hand darüberhalten. Wir staunen und spüren der starken Energie nach, die uns umgibt. Sie lässt Demut und Dankbarkeit aufkommen.


Mürren-Kandersteg in Zahlen

  • 1775 Meter tief fallen die Felswände des Blüemlisalp-Rothorns fast senkrecht in den Oeschinensee.
  • 1600 Meter hoch ist die Ostfront des Gspaltenhorns. Nach der EigerNordwand gehört sie zur zweithöchsten Wand der Berner Alpen.
  • 72 Wasserfälle, «Lautere Brunnen», gaben dem Lauterbrunnental seinen Namen.

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