Verstecken tun sie sich erst mal alle ziemlich gut. Die sieben Kirchlispitzen, die Drusenfluh, die Sulzfluh – wo soll man hier denn klettern können, fragt man sich, während man die beeindruckend engen Haarnadelkurven von Schiers in das kleine Bergdorf Schuders hochkurvt. Dann, kurz vor dem Dorfplatz, kommt ziemlich unverhofft dieser eine Moment der Offenbarung: Ah! Da! Wow! Alles klar. Das Rätikon – der 2,5 Kilometer lange Gebirgskamm entlang der Grenze zwischen Graubünden und Vorarlberg mit seinen bis zu 600 Meter hohen Wänden – ist unter Kletterern natürlich längst mehr als ein Geheimtipp. Das Kalksteinparadies im Prättigau hat in den letzten Jahren so manchem klassischen Klettergebiet in den Nordalpen den Rang abgelaufen. Grund dafür ist neben der guten Erreichbarkeit und der hervorragenden Felsqualität sicher auch der weit über die Landesgrenzen hinaus strahlende Nimbus der vielen legendären Südwandrouten. Hauptverantwortlich dafür ist ausgerechnet einer, der auf der Nordseite in Österreich aufgewachsen ist: Beat Kammerlander. «Das Rätikon ist für mich Heimat und Lieblingsgebirge zugleich», fasst er seine jahrzehntelange Beziehung zu den Felsen hier zusammen. «Es gibt so viele schöne Ecken hier, verbunden mit Erinnerungen. Für mich ist es immer wieder eine Rückkehr an einen Ort, an dem ich vollkommen geerdet bin.»

Links: Bergführer Felix Erlacher
im Klassiker «Galadriel» an
der 5. Kirchlispitze. Rechts: Gross- und Hausmeister
Beat Kammerlander sagt:
«Das Rätikon ist für mich
Heimat und Lieblingsgebirge
zugleich.»
Mit Nagellack in ein neues Zeitalter
Der Feldkircher Kletterprofi war einer der ersten Rockstars der aufkeimenden Sportkletterszene: Mit lackierten Fingernägeln, wallender roter Mähne und schrillen Leggings war er eine Galionsfigur des damals noch recht rebellischen Klettersports. Mitte der 1980er brachte er das extreme Sportklettern dann ins alpine Gebirge – eine revolutionäre Idee, die hier im Rätikon einen ihrer Hotspots hatte.
Purer Genuss in den schönen
Wasserrillen der letzten
Seillänge von «Little Joe» am
Schweizertor
Angefangen hat wohl alles am äussersten linken Ausläufer des Drusenfluh-Westgrates, dort, wo für Rätikonverhältnisse eine verdammt steile, gelbbraune Südwestwand abbricht – das Schweizereck. Hier war Beat Kammerlander der visionäre Vorreiter, als er 1988 mit der «New Age» (10-) eine Route eröffnete, die zum Mythos werden sollte. «Das war damals eben die New-Age-Bewegung, die uns nicht ganz unsympathisch war», kommentiert er 37 Jahre später augenzwinkernd und deutet auf das Dach in der Wandmitte, wo sich die Schlüsselstelle befindet. «Die Crux ist ein abgefahrenes 8a-Boulderproblem über die Dachkante, sehr speziell.» Der Name war Programm, die Fotos gingen um die Welt. New Age steht aber nicht nur für die Bewegung, auch das Klettern im Rätikon wurde in eine neue Ära katapultiert – die Wände hier wurden weltberühmt.
Der Felsriegel vom Schweizereck bis
zur Drusenfluh glüht im Abendlicht.
1993 setzte Kammerlander mit dem Silbergeier wieder neue Massstäbe: schwerer und steiler als alles bisher Dagewesene. «Ein absolut unglaubliches Stück Fels», schwärmt er. «Das war für damalige Verhältnisse schon eine ganz harte Nuss zu knacken.» Nur die WoGü (11-), die er in Erinnerung an die deutsche Kletterlegende Wolfgang Güllich einbohrte, war dann doch eine Nummer zu gross – für eine erste Rotpunktbegehung musste Adam Ondra höchstpersönlich anrücken. Beat Kammerlander jedenfalls hat mit seinen Erstbegehungen das Rätikon geprägt. Und wurde im Gegenzug vom Rätikon geformt. Auch wenn der heute 65-Jährige mittlerweile etwas gebückt daherkommt, die rote Mähne schütter geworden ist und sein «Training jetzt hauptsächlich aus Physiotherapie besteht», ans Aufhören denkt ein Beat Kammerlander noch lange nicht. Noch im Alter von fast 60 Jahren hat er hier im Rätikon eine seiner schwierigsten Routen frei geklettert: die Kampfzone, Schwierigkeit 8c. Auch als Bergführer ist er noch aktiv.

Rustikal, aber umso charmanter:
Das Interieur der kleinen Selbstversorgerhütte
erinnert an vergangene Zeiten. Die urige Pardutzhütte des
Kletterclubs Rätikon (KCR) im Grüscher
Älpli ist ein idealer Ausgangspunkt
für die Klettereien hier.
Kontrastreiches Rätikon
Beats Erschliessungsstil ist sicher einer der kompromisslosesten im Rätikon. Immer von unten, ohne sich die Route vorher anzuschauen, immer nur so viele Bohrhaken wie unbedingt nötig. Aber es ist ein Stil, der sich hier auch in den weniger extremen Routen durchgesetzt hat: Das Rätikon mit seinen kompakten Platten und ästhetischen Wasserrillen ist bekannt dafür, dass man wirklich klettern muss; dass man manchmal noch weit über dem letzten Haken einen filigranen Zug machen muss; dass man, kurz gesagt, nichts geschenkt bekommt. Das macht natürlich auch den besonderen Reiz aus. Aber neben dieser wilden, dieser erbarmungslosen Seite gibt es auch noch etwas anderes: «Das Rätikon», meint Beat, «ist irgendwo auch ein sehr gemütliches Gebirge.» Und damit meint er nicht die Mikroleisten oder die wilden Hakenabstände in seinen Hardcoretouren, sondern die Zugänglichkeit, den Gesamteindruck. «Die ganzen ‚Fluhs‘ hier, die Namen stehen für Berge, die auf der einen Seite grüne Grasmatten haben und auf der anderen Seite schroff abbrechen. Dieser Kontrast zwischen sanft und extrem, das gefällt mir so gut.»
Besonders eindrucksvoll ist dieser Kontrast im Partnuntal: Einerseits ist hier die Landschaft mit dem Partnunsee und den Alpwirtschaften ein Stück Schweiz wie im Modell. Andererseits finden sich hier mit der Sulzfluh, dem Gruebenflüeli oder dem direkt über dem See gelegenen Felsriegel «Chlei Venedig» Routen moderneren Charakters, die sogar das Prädikat «gut abgesichert» verdienen. Viele dieser Routen sind dem Prättigauer Bergführer Vital Eggenberger zu verdanken, so auch die berühmte Rialto (7-). Tüftelige Rätikonplatten, die viel Gespür und Bewegungsgefühl fordern, dominieren auch hier die Kletterei.
Schwimmen im Meer aus
Kalk: Felix Erlacher in der
«Little Joe», im Hintergrund
die steile Wand des
Schweizerecks.
Wie auf Zeitreise: Kletterkultur im Hüttli
Wer die Kletterkultur im Rätikon wirklich verstehen will, muss noch ein Tal weiter nach Westen ziehen, ins Grüscher Älpli. Und einen Schritt in die Selbstversorgerhütte des KCR setzen. KCR, das steht selbstredend für Kletter-Club Rätikon, und das Herz des Clubs ist eben jenes charmant in die Jahre gekommene Hüttli, das schon beim Betreten so urchig knarzt. An den Wänden vergilbte Plakate mit Kletterern aus den 90er-Jahren, daneben eine Bücherecke mit noch älteren Klassikern der Bergsteigerliteratur, in der Mitte der Holzofen. Und auf der einen Seite das «Chamera» mit den zwanzig Lagerplätzen, auf der anderen die «Chuchi» mit den bunt zusammengewürfelten Töpfen und Tassen im Holzschrank. Ein bisschen wird man in eine andere Ära zurückversetzt. Dass hier oben die Zeit stehen geblieben ist, kann man aber auch nicht sagen: Erst kürzlich wurde das Plumpsklo in Rente geschickt und im Holzschuppen ein WC mit Wasserspülung installiert, für den kleinen Luxus auf dem Berg.
Seit über 50 Jahren gibt es den KCR, das gedruckte Jubiläumsheft liegt im Regal. Neben alpingeschichtlichen Höhepunkten und der Vereinsgeschichte werden auch die Mitglieder vorgestellt, eine davon: Nina Caprez. Die Schweizer Profikletterin schreibt in ihrem Beitrag: «Man spürt, dass das Rätikon etwas ganz Spezielles in einem auslöst. Ich bin immer wieder überwältigt von diesem grossen Kalkband und spüre, dass die Natur hier Chef ist.»
Wie wahr. Für eine finale Bestätigung braucht man bloss am nächsten Tag aus dem Bettenlager kriechen, nach dem Espresso den Kletterrucksack schultern und hinaufzupilgern zum Kalkband. Egal, für welche Route man sich entscheidet, das Rätikon vergisst man nicht so schnell. Etwas ganz Besonderes eben.
Alpinklettern im Rätikon
Anreise
Für die Südwände fährt man ins Prättigau,
Graubünden. Ausgangspunkt für
die meist recht anspruchsvollen Touren
im Grüscher Älpli (Kirchlispitzen,
Schweizereck) ist der Kletterparkplatz
knapp unterhalb der Hütte des KCR
(Selbstversorgerhütte, Reservierung
unter raetikon.ch), der via Schiers und
Schuders erreicht wird (enge, kurvige
Bergstrasse, am Schluss 30 min auf
Forststrasse). Für die allermeisten
Touren hier sollte der 7. Grad solide beherrscht
werden.
Für die etwas gutmütigeren Wände
um die Sulzfluh nach St. Antönien und
weiter nach Partnun (Asphaltstrasse),
hier gibt es zwei Berghotels für Übernachtung
und Einkehr nach der Tour.
Anreise
Der Kletterführer «Rätikon Süd»
vom Panico Alpinverlag fasst alle
Touren gut zusammen.
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